Zur Frage der Geistleitung

Gemeinsame Grundlage der Mystik und der Heiligungsbewegung ist … die Annahme der Möglichkeit der direkten 'Führung' der Gläubigen durch Gott. (Klaus Fiedler)

Schirrmacher setzt sich in seiner Ethik mit dieser Annahme auseinander. Er stellt zunächst fest, dass die reformatorische Theologie über Jahrhunderte einen anderen Standpunkt eingenommen hätte. Sein Haupteinwand lautet: Wo in der Bibel werden wir aufgefordert, wichtige Entscheidungen aufgrund von äusseren Zeichen und inneren Empfindungen zu fällen, die wir im voraus von Gott erbitten? Und: Wer legt überhaupt fest, bei welchen Dingen der Geist befragt werden muss und bei welchen nicht?

Bei der Beantwortung ist die Unterscheidung zwischen dem souveränen und dem ethischen Willen Gottes wichtig. Der souveräne Wille umfasst alles, was tatsächlich passiert, also das Gute und das Böse. Der moralische Wille ist im Alten und Neuen Testament offenbart worden und definiert allein, was Sünde ist. Der souveräne Wille Gottes nimmt viele Entscheidungen vorweg und spielt deswegen in der Planung eine grosse Rolle. Es ist keine Sünde, eine Änderung des souveränen Willens zu erbitten oder auf eine Änderung jeder von Gott gegeben Situation hinzuarbeiten – denn auch Änderungen unterstehen Gottes souveränem Willen.

Kann Gott aber nicht seinen souveränen Willen durch Prophetie kundmachen?  Tatsächlich wurden so einzelnen Menschen zukünftige Ereignisse offenbart. Doch: Es betraf normalerweise Ereignisse für die ganze Welt, das ganze Volk Gottes oder zumindest eine Gruppe von Menschen und eigentlich nie private Angelegenheiten. Direkte übernatürliche Führung für spezielle Entscheidungen war die Ausnahme, nicht die Regel. Zudem wurden solche Offenbarungen durch Worte und durch mit Worten erklärte Bilder, nirgends jedoch durch Ahnungen, Empfindungen, Gefühle oder erst zu deutende Zeichen offenbart.

Fazit: Gott hat dem Menschen Freiheit gegeben, innerhalb des souveränen Willens Gottes (also innerhalb des Möglichen) und innerhalb des moralischen Willens Gottes (also innerhalb des Erlaubten) zwischen verschiedenen Wege zu wählen. Bei der Freiheit der Entscheidung geht es nicht um Sünde oder Nichtsünde, um Gehorsam oder Ungehorsam, durchaus aber etwa um weise oder unweise Entscheidungen, um Entscheidungen mit ganz unterschiedlichen Folgen, für die der Mensch dann auch einstehen muss.

Aus: Thomas Schirrmacher. Ethik. Bd. 3. RVB/VTR: Hamburg/Nürnberg 2002.

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