Vom Sinn der Schwermut

Romano Guardini zitiert am Anfang seines Buches “Vom Sinn der Schwermut” längere Ausschnitte aus dem Werk von Sören Kierkegaard.

Das ganze Dasein ängstigt mich, von der kleinsten Mücke bis zu den Geheimnissen der Inkarnation; ganz ist es mir unerklärlich, am meisten ich selbst; das ganze Dasein ist mir verpestet, am meisten ich selbst. Gross ist mein Leid, grenzenlos; keiner kennt es, ausser Gott im Himmel, und er will mich nicht trösten; keiner kann mich trösten, ausser Gott im Himmel, und er will sich nicht erbarmen.

Vom Dichter sagt man, er rufe die Muse an, um Gedanken zu bekommen. Das ist bei mir eigentlich nie der Fall gewesen, meine Individualität versagt mir sogar, das zu verstehen; im Gegenteil, ich brauchte jeden Tag Gott, um mich des Reichtums der Gedanken zu erwehren. Wahrlich, gib einem Menschen eine solche Produktionskraft und dazu eine so schwache Gesundheit, so wird er schon beten lernen. Ich könnte mich niedersetzen und ununterbrochen Tag und Nacht und nochmal einen Tag und eine Nacht fortschreiben, da Reichtum genug da ist; dieses Kunststück habe ich jeden Augenblick machen können; kann es noch jetzt.

Denn wo ich auch war, vor aller Augen oder unter vier Augen mit dem Vertrautsten, immer war ich in Betrug gehüllt, also allein: in der Einsamkeit der Nacht konnte ich nicht mehr allein sein. Ich war allein nicht in den Urwäldern Amerikas mit ihren Schrecknissen und Gefahren, sondern allein in der Gesellschaft der schrecklichen Möglichkeiten, gegen welche auch die schrecklichste Wirklichkeit Erquickung und Linderung ist …. allein in der Sinnlosigkeit meines Daseins, ohne mich (auch wenn ich wollte) auch nur einem einzigen verständlich machen zu können – ja, was ich sage ‘einem einzigen’: es gab Zeiten, wo mir nicht das fehlte (so dass man also nicht sagen könne: ‘das fehlte bloss noch’), Zeiten, da ich mich auch mir selbst nicht verständlich machen konnte.

Guardini kommentiert:

Tief verwundbar ist ein solches Leben. (Er ist zerrissen durch) eine innere Gegensätzlichkeit der Lebenstendenzen; eine Spannung zwischen den Motiven; ein wechselseitiges Durchkreuzen der Triebe; Widersprüche in der Haltung Menschen und Dingen gegenüber, im Anspruch an die Welt und an das eigene Leben; in den Massstäben, nach denen gemessen wird.

Aus: Romano Guardini. Vom Sinn der Schwermut. Matthias-Grünewald-Verlag: Mainz 1987.