Der heimliche Unterricht des Fernsehens

Hartmut von Hentig nennt bei den gesellschaftlichen Veränderungen, die sich für den Unterricht erschwerend auswirken, an erster Stelle das Fernsehen:

Allen Wirkungen des Fernsehens ist die dies gemeinsam: die Aufhebung einer nützlichen, das Nachdenken ermöglichenden Distanz.  … Der heimliche Unterricht des Fernsehens hinterlässt das Bewusstsein:

  • Ich habe es doch selber gesehen und weiss darum, wie es ist oder war.
  • Was ich da miterlebe, ist enorm aufregend, enorm wichtig, enorm fürchterlich, enorm glanzvoll; mein Leben ist, daran gemessen, unbedeutend und langweilig; es hat eigentlich nur soviel Geltung, wie ich am Fernsehen teilnehme.
  • Alles ist, wenn es auf dem Schirm erscheint, schon ohne mich gesehen; es läuft, auch wenn das Gerät abgestellt ist, weiter und kommt doch zu keinen Lösungen, sondern nur zu neuen Problemen. Was soll ich da noch!

Man stelle sich eine Schulklasse am Montagmorgen vor:

Welche Verwirrung, die die Kinder nach dem Wochenende in die Schule mitbringen und die weitgehend – gewiss nicht ganz! – auf das Fernsehen zurückzuführen ist. Auch diese Erscheinung hängt mit der Wirkungsweise des Fernsehens zusammen: mit der Besinnungslosigkeit, zu der es den Zuschauer verurteilt, und mit der Beliebigkeit des Schaukonsums, zu der es verführt. Wenn dann noch hinzukommt … die bewusste Überwältigung der Zuschauer durch den Bildschnitt – durch das Fehlen der Halbsekunde, die normalerweise zwischen dem Ereignis und seiner Wahrnehmung liegt und uns erlaubt, die hier hilfreiche Erfahrung abzurufen -, dann ist nicht weiter verwunderlich, was jeder Lehrer am Montagmorgen mit den vielfernsehenden Kindern zwischen 10 und 14 erlebt.

Mit einer abrupten Rückkehr zur Sachlichkeit werde nicht viel erreicht:

Wer den brodelnden Grund mit den vorfabrizierten Betonplatten des Unterrichts zudecken will, wird weder die Sache noch das Kind voranbringen.

Aus: Hartmut von Hentig. Die Schule neu denken. Beltz: Weinheim/Basel 2003. (29-31)