Wie können wir wissen?

Herman Bavinck beschreibt den Rationalismus und den Empirismus als die beiden klassischen wissenschaftlichen Schulen zur Gewinnung von Wissen und Erkenntnis.

Während der Rationalismus subjekt-orientiert ist, d. h. das Denken des Menschen zum Ausgangspunkt nimmt, geht der Empirismus vom Objekt der Erkenntnis aus. Der Rationalismus behauptet nur über Repräsentation Zugang zu den Dingen selbst zu haben, womit Gedanken als Realität angesehen werden. Der Empirismus meint dagegen, dass die sinnlichen Wahrnehmungen die Quelle der Erkenntnis seien.  Während bei der ersten Richtung das Innere des Menschen Ausgangspunkt der Erkenntnis ist, liegt bei der zweiten alle Bewusstheit ausserhalb des Menschen.

1. Subjektorientierter Erkenntnisgewinn

Bavinck formuliert folgende Einwände gegen den Rationalismus:

  • Er steht unserer Erfahrung entgegen. In der Praxis sind alle, die Rationalisten miteingeschlossen, Realisten.
  • Wir unterscheiden sehr wohl zwischen internen Zuständen und externen Dingen; zwischen dem, was in uns und ausserhalb von uns ist; zwischen Traum, Halluzination und Wirklichkeit.
  • So wie wir mit unseren eigenen Händen Nahrung und Kleidung zubereiten, indem wir Material ausserhalb von uns verarbeiten, so erhält auch unser Intellekt zahllose Impulse von aussen. Der Intellekt ist Instrument, nicht Quelle. Der Idealismus setzt aber Quelle und Instrument einander gleich.
  • Eine Sache taucht weder durch einen Traum auf, noch folgte sie in logischer Abfolge unseren inneren Eindrücken, sondern sie wird oft abrupt von aussen an uns herangetragen. Durch dieses Ereignis werden innere Überlegungen „über den Haufen geworfen“.
  • Abstrakte, inhaltslose Gedanken, das Absolute, die Existenz – allesamt Ausgangspunkte des Rationalismus/Idealismus – sind nicht in der Lage, den Reichtum und die Fülle des Bestehenden hervorzubringen. Das Leben kann nicht von steriler Abstraktion hergeleitet werden, die Vielfalt der Phänomene nicht von einem leblosen “Einen”.
  • Es wäre bizarr, das Beobachten einer Feuerflamme, ihre Form, Grösse, Bewegung für objektive Eigenschaften zu halten, ihre orange-rote Farbe und das Knistern der Flamme jedoch als nur subjektives Empfinden zu werten. 
  • Wie ein Telegraph eine Botschaft durch mechanische Vibrationen transportiert und von der Botschaft an sich unterschieden werden muss, so müssen die Stimuli, die vom Objekt ausgehen, vom Subjekt (der Botschaft) unterschieden werden.

2. Objektorientierter Erkenntnisgewinn: Empirismus

Dem Idealismus, welches das Subjekt der Erkenntnis betont, steht der Empirismus gegenüber, der Wert auf das Objekt der Erkenntnis legt. Erkenntnis ist nur dann vertrauenswürdig, wenn es aus „Material“, das sinnlicher Wahrnehmung entstammt, konstruiert ist. Konzepte ohne sinnliche Wahrnehmung sind leer und inhaltslos. Das bedeutet aber, dass unsere Erkenntnis auf das „dass“ und das „wie“ beschränkt ist. Das „was“ und das „warum“ bleiben verborgen. Bavinck denkt weiter:

Diese absolute Verbindung unseres Denkens mit der wahrnehmbaren Welt führt letztlich dazu, dass wir nicht nur den Inhalt unseres Denkens über die Welt, sondern unser ganzes Bewusstsein und das Denken selbst aus dieser erklärt werden muss. Wer dies zu Ende denkt, landet im Materialismus.

Bavinck bezieht mit diesen Einwänden gegen den Empirismus Stellung:

  • Das menschliche Denken ist nie vollkommen passiv oder empfangend, sondern immer mehr oder weniger aktiv. Selbst die einfachste Wahrnehmung und Repräsentation setzt Bewusstheit und Tätigkeit unseres Inneren voraus.
  • Wir sind nicht nur im Besitz von speziellen und zufällig anfallenden Wahrheiten, sondern auch von universellen und notwendigen (zum Beispiel im Gebiet der Logik oder der Mathematik). Diese können nicht einfach von der Erfahrung hergeleitet werden.
  • Beweise ruhen letztlich in einer Aussage, die keinen Beweis benötigt, die in sich selbst ruht. Kenntnisse von Phänomenen, Personen und Fakten haben deshalb vorbereitende Funktion. Der Analyse muss die Synthese folgen.
  • In jeder Wissenschaft spielen Erfindungen, Intuition, Vorstellungskraft sowie ein bestimmter Genius die wichtigste Rolle!
  • Die Welt der nicht-materiellen Dinge, die Welt der Werte, von Gut und Böse, Gesetz und Gewohnheiten, von Religion und Moral, von allem, was uns zu Liebe und Hass in uns anregt, das uns emporhebt oder uns betrübt, ist eine Realität jenseits der sichtbaren. Diese Welt ist in jedem Forschenden jederzeit präsent.
  • Die Folge der Annahme, dass die Beschäftigung mit der Wissenschaft subjektiv und objektiv beschränkt ist, führt dazu, dass Menschen ihre metaphysischen Bedürfnisse anderweitig abdecken. Kant nahm den Weg der praktischen Vernunft; Comte führte den Kult der Menschlichkeit ein, sich selbst als dessen Hohepriester. Und Spencer huldigte dem „Unerkennbaren“ (Unknownable).

Herman Bavinck, John Bolt, John Vriend. Reformed Dogmatics. Vol. 1. S. 207-222.