Die Angst vor dem Erwachsenwerden

Nina Pauer (* 1982) schreibt über die (68er-)Elterngeneration und ihre noch nicht erwachsenen Kinder. Ich empfinde die Beschreibung als nahe bei meinem Erleben, brisant, auch entlarvend. 

Bei unseren Eltern können wir uns jederzeit verkriechen. Wann immer wir kriseln oder kränkeln, ist unser altes Zuhause bei ihnen der Fluchtpunkt vor uns selbst. Denn er bietet uns den Schutz einer sicheren Höhle, in der wir zuverlässig die Auszeit finden, die wir brauchen. Es gibt dort nämlich irgendwie keine Zeit. Oder sie scheint einfach stillzustehen. Nahezu magisch zieht es uns deshalb regelmässig, wenn wir dringend Ruhe benötigen – um nachzudenken, auszuschlafen, Abschlussarbeiten, Bewerbungen oder Trennungsbriefe zu Ende zu schreiben -, zurück in unsere alten Kinderzimmer. Dort sind wir abgeschottet von allen kleinen und grossen Störfaktoren, die uns das Leben sonst so schwermachen. Wir sind stets willkommen weshalb meistens, wenn wir aufkreuzen, das Bett schon präventiv für uns bezogen ist. Ausser unseren Eltern rückt uns dort niemand auf die Pelle, wir können bleiben, so lange wir wollen, und kommen und gehen, wann und wie wir lustig sind. Es ist immer warm, der Kühlschrank immer voll und das Klopapier nie alle. Kurz: Es ist ein Ort, an dem wir uns um rein gar nichts kümmern müssen. Ein heilsames Ausserhalb im Innern unserer hektischen Leben.  (143)

Der Erziehungsstil: Nicht eckig, beteiligend, alles hinterher tragend:

Unsere Eltern sind weder spiessig noch autoritär. Sie haben uns nie das Gefühl gegeben, etwas aus reiner Willkür oder Machtausübung zu verbieten, sondern uns immer alles pädagogisch und wertvoll erklärt. Schon als kleine Menschen haben sie uns ziemlich ernst genommen und wie mündige Gegenüber behandelt. Mit unseren Eltern konnten wir bereits zu Oberstufenzeiten bei gutem Rotwein versacken. Sie waren es, die uns als Erste über Betäubungsmittelverstösse und Verhütung erzählt und bis zum bitteren Ende mit uns fürs Abi gelernt haben. Nach dem Zusammenbruch unserer ersten Liebe konnten sie uns glaubhaft machen, dass das Leben weiterginge. Wenn wir krank waren, sind sie immer vorbeigekommen oder haben uns Care-Pakete geschickt. Ihre waren die härtesten Nachtschichten beim Korrekturlesen unserer Magisterarbeiten. Und auch bei unseren allernervigsten Umzügen haben sie uns noch immer geholfen. Und dabei am Ende sogar ohne allzu viel Murren akzeptiert, dass wir ihre Keller und Dachböden mit unserem alten aussortierten Krempel zustellten. Als Gegenleistung erwarteten unserer Eltern dafür von uns nichts. Höchstens vielleicht, dass wir uns frei entfalten und innerhalb der uns gegebenen Möglichkeiten versuchen sollten, glücklich zu werden. Sie, so gaben sie uns stets doppelt und dreifach zu verstehen, würden uns dabei selbstverständlich helfen, wo immer sie konnten. (146-147)

Es bleibt eine hohe Identifikation der Eltern mit den erwachsenen Kindern:

Für unsere Eltern sind und bleiben wir die wertvollsten Menschen der Welt. … Insgeheim … sind wir immer noch der Mittelpunkt ihrer Leben. (155)

Gerade auf ihren Partys hab ich so den Eindruck (so lässt Pauer den Therapeuten G. aussagen), dass ich alle mit ihren Kindern schmücken, dass das ihre Juwelen sind, mit denen sie PR für sich selbst machen. (167)

Sie machen von den Möglichkeiten der modernen Kommunikation Gebrauch – bis hin zum Facebook-Account:

Seit unsere Eltern, die einstige Generation Doppelklick, sich auch noch kommunikativ gemacht hat … sind sie uns noch näher gerückt. Dadurch, dass unsere Mütter und Väter irgendwann verstanden haben, dass meistens schon ein einmaliges Klicken genügt, um ans Ziel zu gelangen und unsere e-Mails zu öffnen oder Skype zu installieren, seit sie gelernt haben, wie man ein Handy an- und ausschaltet, wie man unsere Nummern im Telefonbuch speichert, diese anruft oder unseren Anruf entgegennimmt und wie man eine SMS schreibt oder empfängt,k hören wir sie noch mehr als vorher. (155-156)

So lautet das Fazit Pauers:

Unser Angstmacher Nummer vier ist der begründetste, der logischste, der berechtigste, den wir mit uns herumtragen. … Es geht um unsere Angst, so richtig erwachsen zu werden. … Wir müssten uns dann klarmachen, dass die vergehende Zeit deshalb nicht nur uns erwachsen, sondern auch unsere Eltern älter werden lässt. Und dass das bedeutet, dass sie irgendwann einfach nicht mehr da, dass sie weg sein werden. Und dass unsere Flatrate auf Liebe, Freundschaft und Sicherheit in Wirklichkeit gar keine ist. Sondern, dass auch sie endlich ist. So wie wir. Und wie unsere Eltern. (171)

Aus: Nina Pauer. Wir haben keine Angst. Gruppentherapie einer Generation. Fischer: Frankfurt 2011.