Die Folgen konstruktivistischen Denkens für den Lernprozess

Ich habe mich in letzter Zeit intensiv mit den Postulaten des Radikalen Konstruktivismus und den Folgen für den Lernprozess auseinandergesetzt. Hier sind meine Schlussfolgerungen:

1. Der Lehrende wird von der Verantwortung einer geordneten Darstellung des Inhaltes entbunden.

Da jeder Lernende sich sein Wissen nicht nur selbst aufbaut, sondern in der ihm eigenen Ordnung erschafft und strukturiert, liegt der Schwerpunkt auf dem Arrangieren von Lernwelten. Das bedeutet, dass der Lehrende nicht mehr primär für die Strukturierung von Inhalten verantwortlich ist. Das  geordnete Anleiten im Sinne eines objektiv vorhandenen Zielkatalogs wird sekundär.

Die Auffassung, dass die inhaltliche Verantwortung zur Hauptsache beim Lernenden liegt, kann zu einer falschen Entlastung des Lehrenden führen. Er sieht sich als Gestalter eines Prozesses und legt die Betonung auf Methoden und das zur Verfügung stellen von Material. Inhalte sind zweitrangig. Sowohl der Dialog zwischen Lehrenden wie auch seine Professionalisierung konzentrieren sich auf das Finden von ansprechenderen Lernsettings statt auf besserer Strukturierung der Inhalte. Einschränkend muss gesagt werden: Die Unterrichts-Wirklichkeit mildert diese Tendenz ab. Lehrpläne geben inhaltliche Ziele vor, Lehrmittel strukturieren diese Inhalte, Prüfungen fragen sie ab.

2. Die Zuversicht des Lernenden eine objektive Realität zu entdecken sinkt.

Wenn die Welt selbst erschlossen wird (oder: werden muss), dann steht es in der Kompetenz des Lernenden, den eigenen Aufwand zur Entdeckung zur regulieren. Je nach Charakter und Umfeld des Betroffenen kann dies entweder der Bequemlichkeit oder der Resignation Vorschub leisten. Wenn das dargebotene Material ohne grösseren Widerstand bewältigt werden kann, kann sich der Lernende damit begnügen, obwohl wesentlich mehr drin gelegen hätte. Wenn die eigenen Anstrengungen hingegen nicht zum gewünschten Erfolg führen, zieht sich der Betroffene zurück und schraubt seine Aktivität zurück. Die Wiederholung solcher Misserfolge bestätigt ihn in dieser Haltung.

Was heisst das? Wenn wir nicht mehr davon ausgehen können, dass wir wissen und Wahrheit erkannt werden kann, verlieren wir die für den Lernprozess notwendige Zuversicht und Energie, die zur Vermittlung einer Sicht auf die Wirklichkeit nötig wäre. Der Verlust der Wahrheit führt zum eigenen Zerfall, weil das Zentrum nicht hält. Dies hat möglicherweise weitere Auswirkungen, nämlich:

3. Wer Wirklichkeit schaffen muss, räumt sich ein unnötiges Recht zu irren ein.

Nehmen wir an, dass sich ein Lehrender oder ein Lernender täuscht, das heisst die Reaktion seines Umfelds anders ausfällt als erwartet (also eine Abweichung von Selbst- und Fremdbild besteht), öffnet der Konstruktivismus eine bequeme Hintertüre: Anstatt den Irrtum zuzugeben und die eigene Sichtweise zu korrigieren gibt es die Möglichkeit, im Irrtum zu verharren. „Lass mich in meiner Welt.“ Die andere Option ist hingegen, sich über das Umfeld zu beschweren:

4. Wer Wirklichkeit schaffen muss, darf eher an der Umgebung zweifeln als an sich selbst.

Wenn die einzige Gewissheit unsere innere Welt ist, dann gibt es eine zweite Möglichkeit sich selber zu schützen. Von aussen eindringende Signale, die uns nicht in unserer Selbsteinschätzung bestätigen, werden durch Ablehnung absorbiert. Anders ausgedrückt: Wir hören, was wir hören wollen – und wir haben eine permanente Entschuldigung dafür. Weil wir prinzipiell von uns selbst und unserer eigenen Erfahrung ausgehen, beurteilen wir die anderen aus unserem Verständnisrahmen heraus.

5. Wenn nur die eigene Wirklichkeit zählt, verliert das bessere Argument an Kraft.

Bestandteil jedes Lernprozesses ist das Hinterfragen eigener Gedanken durch die Konfrontation mit anderen. Eigene Gedanken werden überprüft, reflektiert und verglichen. Schlechtere Argumente werden durch bessere ersetzt. Der Relativismus droht jedoch diese Kultur des Diskurses zu ersticken. Die Diskussion wird nicht mehr als notwendig erachtet und ist nicht mehr erwünscht. Sie findet vielleicht noch in Subkulturen wie einem Debattierklub statt.

6. Wenn jeder auf sich selbst geworfen ist, bleiben die Lernschwachen auf der Strecke.

Pongratz bringt dieses Argument spitz ein:

Die ethische Reflexion stürzt ins Bodenlose, um sich schliesslich auf dem altbekannten Boden des herrschenden Systems wiederzufinden: Alles fliesst, nichts gilt und das Bestehende behält Recht, solange es den Funktionalitätsansprüchen des Systems genügt. Übrig bleibt ein undogmatischer Dogmatismus, der seine eigenen Tabus etabliert. (Ludwig A. Pongratz. Untiefen im Mainstream. Ferdinand Schöningh: Paderborn 2009. S. 36.)

Der Lehrende gerät so mehr und mehr in die Rolle des „Kultur-Agenten“. Weil er sich einfach nach den aktuellen Vorgaben seines Arbeitgebers richtet, nimmt er die dahinter stehenden Denkvoraussetzungen willig in sich auf und multipliziert sie. Solange das eigene Tun als wirksam und funktional erlebt wird, soll es nicht hinterfragt werden. Dieses System begünstigt den Status quo, der summa summarum die Lernschwachen benachteiligt, denn

  • Sie kommen nicht in den Genuss einer systematischen Darstellung der Inhalte (Argument 1).
  • Sie resignieren (Argument 2).
  • Oder sie verharren in ihrem Irrtum (Argument 3 und 4).
  • Sie haben keine Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit besseren Argumenten (Argument 5).