Universales Sittengesetz und ethischer Relativismus

Bavinck beschreibt ein universal gültiges Sittengesetz:

(S)obald unser Bewusstsein erwacht, entdecken wir, dass Gesetze und Normen über uns stehen, die uns gebieten, uns über die Natur zu erheben und uns ihrem Zwang zu entziehen. In diesen Normen zeigt sich uns eine andere und höhere Welt als die, welche in der Natur zur Erscheinung kommt. Es ist eine Welt nicht des Müssens, sondern des Sollens, eine Welt der ethischen Freiheit und Wahl. Inmitten und über der empirischen Wirklichkeit behauptet sich in diesen Normen eine sittliche Weltordnung, eine Welt der Ideen, eine Welt des Wahren, Guten und Schönen. … Ob der Mensch ihren Gesetzen gehorchen kann oder will, das ist nicht die Frage, sie sagt kategorisch, dass er es tun soll.

Diesem Sittengesetz ist jeder Mensch unterworfen. Er merkt es dann besonders, wenn er es von anderen einfordert:

So sehr, fast instinktmässig, erkennen wir die Billigkeit dieser Forderung, dass wir andere stets nach ihr beurteilen. Sind wir doch keine gleichgültigen Zuschauer alles dessen, was um uns vorgeht, sondern wir prüfen alles nach dem Gesetz des Wahren, Guten und Schönen, und sprechen unsere Billigung oder Missbilligung darüber aus. Geht es uns selbst an, so haben wir im eigenen Interesse gewöhnlich mancherlei Entschuldigungen zur Hand. Bei anderen aber lassen wir diese fast nie gelten.

Wir tragen ein Gesetz in uns, das uns vorhält dass wir andern sein sollen und anders handeln sollen, als wir wirklich sind und handeln. Wir bilden Werturteile, wir glauben an ideale Güter, wir halten an unvergänglichen ewigen Normen fest.

Wird jedoch eine andere Weltanschauung, die der allmählichen Entwicklung allen Lebens, auf die Ethik angewandt, ergibt sich eine markante Änderung:

Es ist die Menschheit, die allmählich durch die Evolution dem sittlichen Leben, der Autorität und dem Pflichtbegriff, den altruistischen Instinkten und ethischen Motiven Existenz und allgemeine Gültigkeit verschafft.

Die Folge davon ist ethischer Relativismus:

Wenn alles im Prozess aufgelöst wurde, konnten die idealen Normen von wahr und unwahr, von gut und böse, von schön und unschön ihren absoluten Charakter nicht behalten. … Das Normative wird in dem Historischen gesucht, das Ideale mit der Wirklichkeit identifiziert, das Relative in den Rang des Absoluten erhoben.

Das führte zu fatalen Entwicklungen des Nationalismus. Bavinck sah diese 1904 (!) prophetisch voraus:

Weil der Mensch aber doch immer einer gewissen Stetigkeit bedarf, liegt hier die ernste und durchaus nicht eingebildete Gefahr vor, dass diese einseitig historische Betrachtung ihn zu einem falschen Nationalismus, zu einer Schwärmerei für Rasse und Instinkt führt.

Der Relativismus scheint auf den ersten Blick unparteiisch zu sein, weil er sich nur für das Konkrete interessiert. Doch der Schein trügt:

Der Mensch bildet sich seine eigene Religion und Moral, seine eigene Welt- und Lebensanschauung. Die Hauptsache ist, dass er an nicht, als an sich selbst gebunden, sich selbst auslebe, und anderen ein Moment ästhetischen Genusses verschaffe. Natürlich fallen damit auch alle sittlichen Institute, alle Einrichtungen von Familie, Gesellschaft und Staat auseinander. … Es bestehen ja keine objektiven Ideen, keine sittlichen Bande, keine feststehenden Ordnungen mehr, die diese Elemente zusammenhalten und organisieren.

Trotzdem kommen wir aber nicht umhin, uns allgemeine Begriffe zu schaffen und uns unter vertragliche Abmachungen und Regeln zu stellen:

Durch einen fiktiven Vertrag oder durch den Zwang der Umstände schliessen sich die Menschen zusammen. … So schlägt nicht aus ethischer Notwendigkeit, sondern aus praktischen Motiven, aus ökonomischen Faktoren, der Individualismus in Sozialismus, die Autonomie in Heteronomie, der Nominalismus in Monismus, der Atomismus in Pantheismus, die Anarchie in Despotismus, die Volkssouveränität in Staatsallmacht, die Freiheit in Herrschaft der Mehrzahl um.

Herman Bavinck, Christliche Weltanschauung, VKW: Bonn 2007, 64-71