Buchbesprechung: Christliche Weltanschauung (I)

Herman Bavinck. Christliche Weltanschauung. VKW: Bonn, 2007. 91 Seiten. 10 Euro.

Skizze einer einheitlichen Lebens- und Weltsicht

„Nicht nur die Seele des Menschen, wie Tertullian sagt, sondern auch die Seele der ganzen Welt und der ganzen Kultur ist naturaliter christiana.“ (16) Von dieser Vorannahme getragen wagt sich Herman Bavinck daran, „die Richtung anzudeuten“, in der sich „der Strom des Lebens“ bewegt (17). Er stellt fest: „Es ist Disharmonie zwischen unserem Denken und Fühlen, zwischen unserem Wollen und Handeln. Es besteht Zwiespalt zwischen Religion und Kultur, zwischen Wissenschaft und Leben. Es fehlt eine ‚einheitliche‘ Welt- und Lebensanschauung.“ (18) Dieses Vakuum ist verursacht durch die Emanzipation der gesamten Kultur von Gott: „Das ganze Christentum  mit seiner Trinität und Inkarnation, mit seiner Schöpfung und seinem Sündenfall, mit seiner Schuld und Versöhnung, mit seinem Himmel und seiner Hölle gehört in eine veraltete Weltanschauung und ist mit dieser endgültig abgetan. Es hat unserem Geschlecht nichts mehr zu sagen und ist durch eine tiefe Kluft von modernem Denken und Leben geschieden.“ (19)

Bavinck unternimmt den Versuch, eine einheitliche christliche Sicht zu skizzieren. „Eine Welt- und Lebensanschauung wird durch ein Dreifaches bestimmt.“ (22) Er folgt der alten Einteilung der Philosophie in drei Fragen:

  • Wie ist das Verhältnis zwischen Denken und Sein (dialectica),
  • zwischen Sein und Werden (physica),
  • zwischen Werden und Handeln (ethica)?

In dieser Besprechung befrage ich Bavincks kurzes Werk zu zwei sehr aktuellen Fragestellungen nach, nämlich

  1. Wie gelangt der Mensch zu Erkenntnis (Epistemologie)?
  2. Welche übergeordneten Normen leiten Menschen an (Ethik)?

Die menschliche Wahrnehmung

In den ersten beiden Teilen des Buches schneidet Bavinck die wichtige Frage der menschlichen Wahrnehmung an. Wie sind wir in der Lage, Dinge ausserhalb von uns selbst zu erkennen? Seine Argumentation gründet sich der alltäglichen Beobachtung: „Die Tatsache steht fest, dass wir alle von selbst und ohne Zwang das Bestehen einer Welt ausser uns annehmen, dass wir dieselbe durch Wahrnehmung und Denken zu unserem geistigen Eigentum zu machen suchen und dass wir, so handelnd, eine reine und zuverlässige Erkenntnis von ihr bekommen.“ (23)

Zwei Denkrichtungen, Empirismus und Rationalismus, beurteilt er als unzulässige Verkürzung: „Der Empirismus vertraut allein der sinnlichen Wahrnehmung und meint, dass das Verarbeiten der elementaren Empfindungen zu Vorstellungen und Begriffen, zu Urteilen und Schlüssen uns je länger je mehr von der Wirklichkeit entfernt… Umgekehrt meint der Rationalismus, dass die sinnliche Wahrnehmung uns keine Kenntnis der Wirklichkeit verschaffe. Sie gebe uns nur flüchtige und wechselnde Erscheinungen, das Wesen der Dinge aber lasse sie uns nicht sehen.“ (23)

Nur die Annahme einer Aussenwelt kann aber eine Grundlage für die Forschung bieten. Darauf baut sie bis zum heutigen Tag auf. „Die Denkbarkeit und Erkennbarkeit der Welt ist die Voraussetzung allen Wissens…“ (28) „Nun ist aber Wahrheit das unmissbare Gut unseres Erkenntnisvermögens und deshalb der Endzweck aller Wissenschaft. Wenn es keine Wahrheit gibt, fällt (sic!) damit auch alle Erkenntnis und alle Wissenschaft dahin. … Andererseits ist die Annahme der Realität einer Aussenwelt und das Vertrauen auf die Wahrheit der sinnlichen Wahrnehmung eine so spontane Glaubenstat, dass es der scharfsinnigsten Reflexion nicht glücken wird, ihren wissenschaftlichen Charakter zu erweisen.“ (24)

So wie die Wahrnehmung eine Glaubenstat darstellt, so ist sie gleichermassen oft verzerrt. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Erwerben objektiver Erkenntnis unmöglich wäre: „Natürlich sind diese Empfindungen oft ungenau und unrichtig; unsere Sinne sind unvollkommen und unsere Subjektivität übt Einfluss auf die Wahrnehmung. Diese unreinen Bestandteile in der Empfindung … tun der Tatsache keinen Abbruch, dass wir in diesen Empfindungen und Vorstellungen eine zuverlässige Erkenntnis der objektiven Wirklichkeit besitzen.“ (26)

Schon die frühen Glaubensbekenntnisse beginnen mit dem Glauben an Gott den Allmächtigen. Dies widerspiegelt die Grundlage der Korrespondenz zwischen Schöpfung und Geschöpf: „Nur mit diesem Bekenntnis ist die Harmonie von Objekt und Subjekt, von Denken und Sein zu verstehen und zu halten. Die Organe unserer Wahrnehmung sind deshalb infolge des gemeinschaftlichen Ursprungs den Elementen verwandt, aus welchen die ganze Welt zusammengesetzt ist, und lassen uns, jedes für sich, die Welt auf ihre besondere Weise und von einer besonderen Seite erkennen.“ (27-28)

Welche Rolle nimmt der Schöpfer in unserer Wahrnehmung ein? Mit Verweis auf 5Mose 4,19 stellt Bavinck fest: „Um Erkenntnis zu erwerben, verweist die Schrift den Menschen nicht auf seine eigene Vernunft, sondern auf die Offenbarung Gottes in all seinen Werken.“ (28) Alles, was wir denken können, muss bereits von Gott gedacht worden sein. „Wenn die Welt der Inhalt unseres Wissens sein kann, muss sie selbst zuvor klar und unterschieden gedacht sein. Nur weil in Gott die prognosis aller Dinge ist, sind diese alle zusammen die phanerosis seiner Gedanken. Die universalia sind in re, weil sie ante rem im göttlichen Bewusstsein bestanden  haben. Die Welt könnte uns nicht bekannt sein, wenn sie nicht bestünde; aber sie würde nicht bestehen, wenn sie nicht zuvor von Gott gedacht worden wäre.“ (32)

Dieses Bewusstsein sollte Demut in uns bewirken. „Das Erkennbare geht unserer Wissenschaft voraus… Auf diesem christlichen Standpunkt wird alle Selbstherrlichkeit des menschlichen Geistes, als ob er aus eigener Vernunft heraus und durch eigene Mittel die Wahrheit hervorbringen könne, hinfällig.“ (33)

Bavinck greift auf den Begriff der Weisheit zurück, um das Streben zur Erforschung und Entwicklung des Vorhandenen zu erklären. „Weisheit ist auf Wissenschaft gegründet, aber sie bleibt bei ihr nicht stehen. Sie strebt über die Wissenschaft hinaus und trachtet zu den primis principiis durchzudringen. … (Sie sucht die) leitenden Ideen aufzuspüren.” (35) Diese Weisheit geht von dem christlichen Glauben aus. „Es ist dieselbe göttliche Weisheit, die die Welt organisch zu einem Ganzen verbindet, und die in uns das Verlangen nach einer ‚einheitlichen‘ Weltanschauung legt.“ (36)

Der Skeptizismus führt jedoch ins Leere. Wenn wir die Materie für ein Traumbild und eine Illusion halten müssen, „dann bleiben nicht nur diese Eigenschaften (Undurchdringlichkeit, Schwere, Trägheit und Ausdehnung) unerklärt, sondern es wird uns auch jede Sicherheit für unsere Erkenntnis genommen. Die Dinge sind dann in sich selbst etwas ganz anderes, als was die genaueste Wahrnehmung ihrer Eigenschaften uns vermuten und denken lässt. Sie zeigen sich in den Empfindungen ganz anders als sie wirklich sind. Unsere Sinnesorgane verlieren ihre Zuverlässigkeit, die Erkenntnis, welche aus der Erfahrung stammt, wird von ihrem Fundament verschoben und der Schluss von der Erscheinung auf das Sein leidet Schiffbruch. Wir sind bei dem Illusionismus angekommen, (sic!) und lassen alle Wissenschaft in Skeptizismus untergehen.“ (44-45)

Nur ungern gibt jemand zu, in eine Sackgasse geraten zu sein: „Selbst solche, welche die mechanische Weltanschauung als unhaltbar aufgegeben haben, huldigen ihr noch heimlich als dem Ideal der Wissenschaft. Ungern wird für das eine oder andere Gebiet zugegeben, dass hier die mechanische Erklärung nicht ausreiche und durch eine teleologische ersetzt oder ergänzt werden müsse.“ (47)

Der Gedanke geht dem Sein voraus, das Wort der Tat. Diese Gedanken erinnern sehr an Plato. „Alle Dinge sind erkennbar, weil sie zuerst gedacht sind.“ (50) Wie steht Bavinck zu Platon? Die christliche Philosophie konnte „in gewissem Sinne die platonisch-aristotelische Lehre von den Ideen, von den ‚formae‘, übernehmen. … diese formae sind nicht im Kantischen Sinne zu verstehen, als Kategorien, welche wir durch die Tätigkeit unseres Geistes in den Wahrnehmungsstoff hineintragen. Sie sind weder etwas Subjektives, weder etwas Passives, das in das Material unserer Wahrnehmungen aufgenommen wird.“ (53) „Zu dem Wort muss die Tat, zu der Generation die Kreation, zu der Weisheit der Ratschluss Gottes kommen, um dem, was ewig als Idee im göttlichen Bewusstsein war, auch ein wirkliches Bestehen zu geben.“ (54)

Bavinck unterscheidet sehr wohl zwischen Schrift und Platonismus und spricht von einem „gewaltigen Unterschied“. Nach der Schrift haben die Ideen keine objektive, metaphysische Existenz ausser Gott, sondern einzig und allein in seinem göttlichen Wesen. (ebd.) „Es ist der durch den Gedanken geleitete Wille Gottes, … der alle Dinge schafft und erhält.“ Gott gibt allen Dingen ihren Bestand im Sohn (Kol 1,15; Hebr 1,3) „Durch diesen Willen, durch die Kraft Gottes ist es zu verstehen, dass die Gedanken der Dinge zu aktiven Prinzipien in ihnen werden…“ (55) „Die göttliche Energie ist der Quell aller Kräfte und Energien der Geschöpfe; und weil die göttliche Energie nicht blind ist, sondern durch die göttliche Weisheit geleitet wird, zeigen auch die Kräfte und Wirkungen in der Welt Richtung und Kurs.“ (55)

Fortsetzung folgt