Blogjubiläum (9): Sind Nationen Gott-gegebene Entitäten, für die ein transformatorischer Auftrag besteht?

Gastbeitrag von Dr. Gottfried Sommer

Gerne entspreche ich der Bitte Hanniels, einen kleinen Beitrag zu seinem beliebten Blog zu schreiben, auf dem aus meiner Sicht die Buchbesprechungen besonders hervorzuheben sind. Um Aufmerksamkeit zu erregen, bediene ich mich dabei eines kontroversen Themas: Sind Nationen Gott-gegebene Entitäten, für die ein transformatorischer Auftrag besteht?

Schon diese Überschrift bewegt sich auf dem Boden eines Minenfeldes. Nation verbindet man mit Nationalismus und den wiederum mit Rassismus. Das war nicht immer so. Noch im 19. Jahrhundert wollte der christliche Hochkonservative Ernst Ludwig von Gerlach das christliche und nicht das rassische Element zum staatstragenden Prinzip erklären, zu einer Zeit, in welcher der Deutschland noch kein Nationalstaat, sondern ein territorialer Flickenteppich war. Für von Gerlach ging der Staat aus der von Gott eingesetzten Obrigkeit hervor. Längst verblichene Gedanken. Von Gerlach hatte Recht, als er den preußischen Staat, auf dem ja auch das II. Deutsche Reich fußte, am Nationalismus und am „Laster des Patriotismus“ zugrunde gehen sah. Er hatte andererseits Unrecht, in dem er nicht einschätzen konnte, daß er dem von Gott eingesetzten frommen Herrscher zu viel zumutete. König Friedrich Wilhelm IV., der „Bibelchrist auf Preußens Thron“ (H.-J. Schoeps) zerbrach unter der Last der Verantwortung. Fürst von Bismarck, im Umfeld der ostelbischen Erweckungsbewegung aufgewachsen, übernahm die Regentschaft und legte die Grundlage für die spätere nationale Überheblichkeit. Den hochkonservativen, ständisch denkenden Königstreuen fehlte das „Lex Rex“-Verständnis der Puritaner, welches zum Parlamentarismus führte, in welchem der Erste (Premier) der Diener (Minister) aller werden sollte.

Man muss nicht soweit gehen, um gemäß der „providential history“, die Vereinigten Staaten, welche ja aus unzähligen Volksgruppen gebildet wurden, als eine Musternation zu verstehen. Allerdings ist es unleugbar, dass sie das verkörpern (oder vielleicht auch nur lange Zeit verkörpert hatte), was die Bibel als „bedeutende Nation“ (gemäß Gen.12,2: Israel war nie besonders groß in Bezug auf Landesgröße oder Einwohnerzahl, wohl aber bedeutend) bezeichnet. Gegründet von den Nachkommen der „Pilgerväter“, basierend auf einem Wertesystem, das von biblischen Werten durchdrungen war und zum nationalen Erfolg beitrug.
Hatte Paulus recht, wenn er die Nationen in Apg 17:26 als gottgewollt, ja als seine Schöpfung bezeichnet? Damit soll in keiner Weise an die „Volk-Nomos“-Lehre der deutschtümelnden Theologen der Weimarer Zeit erinnert werden. Es ist das Zeugnis der Schrift, dass Nationen in Abraham gesegnet (Gen 18:18) und gemäß des Missionsbefehls belehrt, ja „zu Jüngern“ gemacht werden sollen (Mt 28:19-20). Jesus ist Licht nicht nur für einzelne, sondern auch das der Nationen (Apg 13:47 ELB). Die Kirchen- und Missionsgeschichte zeigt uns, welchen Einfluss das Evangelium auf Völker in ihrer Gesamtheit haben konnte. Norwegen verdankt seine Entstehung als selbstverwaltete Nation im Wesentlichen der pietistischen Erweckung um Hans Niels Hauge. Ein weites Feld. Bedenken wir nur, dass der Gedanke eines Selbstbestimmungsrechts der Völker von Johann Amos Comenius entwickelt wurde, der eine Heimstadt für seine verfolgte Gemeinde der böhmischen Brüder suchte und deshalb an den ungarischen Fürsten Rákoczy schrieb. War Comenius’ Ansinnen auch erfolglos, so berufen sich heute selbst die Kurden, die eben eine solche Nation werden wollen, auf dessen Worte.

Meiner Meinung nach ist eine Neubesinnung zu einem Begriff nötig, der heute so viele Gegner wie den sozialistischen Internationalismus, den Dschihadismus und den Globalismus hat und welchem auch neue imperiale Konstrukte feindlich gegenüber stehen.