Die Kinder vom Ferienhort

Bei uns haben die Sommerferien begonnen. Das Schulhaus in unserer Strasse liegt verlassen da. Nur von einem Ort schwappt der Kinderlärm unvermindert durch unsere offenen Fenster. Im gegenüberliegenden Hort (Tagesbetreuungsstätte) hat der „Urlaubshort“ für alle Kinder begonnen.

Meine These: Eine Kinderbetreuungsstätte ist ein Ort, der wegen den Eltern und um nicht der Kinder willen geschaffen wurde! Wie begründe ich diese Behauptung?

Zuerst fünf (wertende) Beobachtungen:

  1. Die Kinder werden im Hort „vertröstet“. Am Morgen werden sie abgeladen, abends wieder abgeholt. Es geht in der Hauptsache darum, den langen Tag zu überbrücken.

  2. Den Kindern steht eine kleine Fläche zur Verfügung: Der Innenraum und ein kleiner Teerplatz davor. (Natürlich gehen sie ab und zu in den Wald oder machen einen Ausflug.) Doch sie müssen sich mit einem kleinen Territorium begnügen.

  3. Die Kinder werden gehütet und nicht gefördert. Von gewissen idealistischen und/oder sehr begabten Betreuerinnen abgesehen: Welche Motivation sollen diese aufbringen, das einzelne Kind gezielt gemäss seinen Begabungen zu fördern?

  4. Unter den Betreuern dominiert der Typus „easy“. Den meisten scheint es darum zu gehen, sich den Arbeitsalltag nicht zu belastend zu gestalten. Wie oft habe ich Betreuer gesehen, die an ihrem Handy hingen, zusammen einen Schwatz abhielten und nur regulativ, aber nicht inhaltlich und schon gar nicht charakterlich mit den Kindern arbeiteten!

  5. Die Kinder haben kaum Herausforderungen zu meistern: Sie kochen nicht (Essen wird angeliefert), sie putzen nicht (Räume werden gereinigt), sie werken nicht (Mobiliar und Spielgeräte stehen zur Verfügung), sie beackern keinen Garten, sie leisten keine Nachbarschaftshilfe. Wie denn in aller Welt sollen die Kinder auf diesem Weg erfahren, dass das Leben SINN-voll ist und sie GEBRAUCHT werden?

Jetzt fünf übergeordnete Hypothesen:

  1. Die Kinderbetreuung ist eine ausgewachsene Industrie geworden. Angefangen hatte es vor langer Zeit mit (sinnvollen) Kinderschutzgesetzen, welche die Höchstarbeitszeit begrenzten und Ausbildungsstätten für die Jugend schufen. Heute sind wir an einem ganz anderen Punkt angelangt: Kinder werden professionell gehütet und vertröstet, damit die Eltern sich in der Arbeit „verwirklichen“ können.

  2. Im Kontrast zur Kleinfamilie wird dem Kind gesagt, dass sie im öffentlichen Raum Einzelne in einer Masse sind. Im privaten Raum sind sie kleine Könige, denen alle Hindernisse aus dem Weg geräumt werden. In diesem Bereich entwickeln sie sich zu routinierten Nein-Sagern. Im öffentlichen Raum werden sie dazu erzogen, ein Schaf in der Herde zu sein. In diesem Bereich entwickeln sie sich eher zu Ja-Sagern. Man gehorcht dem, der am lautesten schreit.

  3. Der indirekte Imperativ lautet: Orientiere dich an der Peer (Vergleichsgruppe) der Gleichaltrigen. Sie sollen dich lernen, wie du das Leben zu meistern hast. Zweifellos wird im Umgang mit Gleichaltrigen vieles trainiert. Es fehlen jedoch wichtige charakterliche Impulse, die nur durch erwachsene Rollenvorbilder vermittelt werden können.

  4. Eine gewisse Langeweile mag gesund und förderlich sein. Insbesondere geht es darum, dass ein Kind auch dann etwas anzufangen weiss, wenn kein Programm im Fernsehen läuft, kein Spiel auf dem Handy verfügbar ist und kein Animator ein neues Spiel vorgibt. Kinder brauchen jedoch Herausforderungen, besonders die Buben. Sie sollen etwas erobern, hüten, pflegen, beschützen. Sie sollen hirnen, planen, ausprobieren, durchhalten und die Befriedigung von getaner Arbeit erfahren.

  5. Kinder sollen mit der Geschichte des Ortes, mit der Geografie, mit anderen Kulturen und mit anderen Generationen in Kontakt gebracht werden. Dazu reicht das „freie Spiel“ nicht aus, auch nicht der doch lebensferne Ort des Schulzimmers. Dazu braucht es Grosseltern, Eltern, Onkel, Tanten, Nachbarn, Facharbeiter, Denker und Künstler, welche ihre Lebenserfahrung und Begeisterung für Inhalte mit Kindern teilen.

Richtig, das hört sich alles etwas idealistisch an. Es ist mir auch klar, dass es Alleinerziehende, Kinder ohne Kenntnis der Landessprache und solche gibt, deren Zuhause ein Albtraum ist. Doch wir sind auf der anderen Seite vom Pferd gefallen. Da höre ich Mütter miteinander diskutieren. Sie sprechen davon, dass sie „länger zu Hause bleiben“ werden. Wie lange denn? Acht Monate. Also: Orang Utan-Babys hängen zwei Jahre an ihren Müttern. Dieser Luxus ist unseren Kleinen nicht mehr gegönnt. Schade.