Buchbesprechung: Modernismus und Orthodoxie

Herman Bavinck. Modernisme en orthodoxie. J. H. Kok: Kampen, 1911.

Bavinck Rektoratsrede von 1911 an der Freien Universität Amersterdam gilt als Höhepunkt seiner Kultur-zugewandten Äusserungen. Er sprach in einer Zeit, die noch vom Optimismus des beginnenden Jahrhunderts gekennzeichnet war, die aber durch den grossen Krieg drei Jahre später jäh zerstört werden sollte.

Bavinck streicht zuerst heraus, wie durch die Entdeckungen der Naturwissenschaften die „grosse, unendliche Vielfalt“ vermehrt zu Tage gefördert worden sei und gleichzeitig  „die vollkommenste Einheit“ sichtbar werde (Einheit und Vielfalt).  „Schwindelerregende Höhen und unergründliche Tiefen … bilden jede für sich eine Welt und sind doch Teile eines riesigen und wohlgeordneten Ganzen.“ Den Naturforschern, welche die wunderbare Struktur und Ordnung entdeckten, schritten jedes Mal durch eine Tür, die aber „nicht zu dem Licht, sondern auf einen anderen, langen, dunklen Korridor, an dessen Ende wieder eine Tür ist“ führten. „Und so geht es ins Unendliche.“ (Pierre Loti) Die Wissenschaft stehe in ständiger Bewegung. Deshalb würden neu gebaute Systeme von anderen wieder entthront. Der Ursprung der Welt und des Menschen seien aber nach wie vor ein Rätsel. 

Bavinck legt in seiner Rede Optimismus zu Tage. Das Wissen um Gottes erhaltende Kraft, den Glauben, „dass Er es ist, der in diesem Jahrhundert durch seine allmächtige und allgegenwärtige Kraft alle Dinge erhält und regiert“, führe zu Dankbarkeit. So könnten wir mit Freude die Ausbreitung und Erweiterung unseres Wissens annehmen. „Wir nutzen alle technischen Ressourcen, die der menschliche Genius zur Verfügung hat.“ Bavinck sieht sich als „Kind dieser Zeit“, das dankbar jede gute Gabe, die der Vater der Lichter in diesem Jahrhundert gegeben hat, annimmt.

Bavinck sieht sich also „mit beiden Füssen in unserer Zeit“ stehend. Heisst das aber, jegliches Bekenntnis zu verlassen? Dem Supranaturalismus den Rücken zu kehren? Der Autor bezieht mit diesen Einwänden zum Vorwurf Stellung, dass die Theologie weder richtig modern noch richtig orthodox sei. Für beide Begriffe ortet er eine unbefriedigende Deutung: „Modern“ sei eine Bezeichnung, die bereits im Mittelalter von Gruppen gebraucht worden sei, um einen Anspruch auf Neuheit geltend zu machen. Orthodoxie beinhaltete hingegen Zustimmung zum Bekenntnis einer bestimmten Gruppe. Er stellt diesen Definitionen den Begriff „reformiert“ gegenüber, der sowohl Bindung und Kontinuität an das christliche Bekenntnis wie auch die Pflicht beinhalte, die christliche Lehre ständig auf die aktuellen Fragestellungen anzuwenden.

Auch bei den Begriffen „Naturalismus“ und „Supranaturalismus“ nimmt Bavinck eine Begriffsklärung vor. Im 18. Jh. sei der Naturalismus nicht gegen den Supernaturalismus ins Feld gebracht worden, sondern gegen den Rationalismus. Der Naturalismus, der jegliche Offenbarung und sämtliche Wunder leugnete, die ausserhalb und über der normalen Ordnung der Natur stehen, sei erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgekommen.

Wie schnell das neue Weltbild für andere Bereiche übernommen worden sei, zeigte sich etwa an der Schulfrage: Die Schule sollte eine neutrale Bildung und Ausbildung gewährleisten. Religion wurde auf Kirche und Familie, vielmehr das Herz bzw. das Innere, begrenzt. Damit wurde das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Für das kirchliche Leben habe das eine doppelte Folge gehabt: Einmal grosse Unsicherheit durch viele einander widersprechende Richtungen, die ein gemeinsames Bekenntnis unmöglich machten, zweitens leere Kirchenbänke. Andererseits sei aber die Unzufriedenheit und Suche nach mehr verstärkt worden: Das Bewusstsein der Abhängigkeit des Menschen, dessen Elend und die Schwere der Sünde, die Notwendigkeit eines Erlösers, die Notwendigkeit der Versöhnung und Erneuerung, der Glaube an das Geheimnis der Welt und der Durst nach Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott. Alle Religionen seien supra-naturalistisch, denn sie stützten sich immer auf eine Realität oder eine vermeintliche Offenbarung. Wenn es einen Gott gebe, dann existiere auch eine anerkannte Ordnung der Dinge, die der Natur und über der menschlichen Erkenntnis übergeordnet sei. Supranaturalismus gehöre, so Bavincks Fazit, zum Wesen des Christentums.

Bezüglich Materialismus habe sich das Blatt aber bereits wieder gewendet. Ganz so eingängig sei die materialistische Erklärung für den Ursprung der Welt nun doch nicht gewesen. Entweder sei „die endgültige Ursache und der tiefste Grund“ dergestalt, dass sie entweder absolut unerkennbar blieb oder nur Objekt eines kindlichen Glaubens sein konnte. Religion sieht Bavinck als Teil der Realität, die damit einen gleichberechtigten Anspruch neben der Wissenschaft, der Kunst erheben dürfe.

Bavinck arbeitet dann den Gegensatz zwischen dem Gottesbild, die die Wissenschaft vermittelt – sie verkündige einen fernen, indirekten Gott – und der Sehnsucht der  Menschen dar. Sie sehnten sich nach einem Gott, der nahe ist und Gebete erhört. Damit greift Bavinck eine Grundspannung des modernen Menschen heraus: Einerseits ist sein Wissen über die Beziehung von Ursache und Wirkung in Natur und Geschichte deutlich erweitert worden. Trotzdem bleibt die Grundfrage bestehen: Wie ist das Bild, das die Wissenschaft von Gott vermittelt, und dem Gott, der den religiösen Bedürfnissen entspricht, miteinander vereinbar? Wie kann das unendliche, ewige Wesen liebevoller, barmherziger und fürsorglicher Vater seiner Kinder sein?

Die Heilige Schrift bezeugt die Einheit Gottes. Der Schöpfer des Himmels und der Erde, in dem alle Wesen leben und weben, der unvergleichliche, unbegreifliche, unendliche und ewige, ist auch der Vater unseres Herrn Jesus Christus und in ihm der Vater aller seiner Kinder. Bavinck bekämpft die „schicksalhafte Trennung zwischen Kirche und der Welt zwischen Wissenschaft und Glauben, zwischen Wissenschaft und der kirchlichen Theologie". Trefflich habe die Theologie zwischen mitteilbaren und nicht mitteilbaren Eigenschaften Gottes unterschieden und keinen Widerspruch zwischen der Transzendenz und Immanenz Gottes gesehen. Auch wenn das menschliche Wissen erweitert worden ist, bleibt ein unendlicher Abstand erhalten. Es unterscheidet sich insofern nicht wesentlich vom früheren Wissen, denn das Rätsel der Natur konnte nicht einfach aufgelöst werden

Bavinck legt in forschem Tempo weitere Argumente vor: Er spricht von der Allgemeinen Offenbarung Gottes in Natur, Geschichte, unserem eigenen Herzen und Gewissen. Die Menschen haben ein Bewusstsein von Gottes Güte, aber auch und noch verstärkt von seiner Gerechtigkeit und seinem Zorn, seiner unvergleichlichen Größe und Majestät (siehe Römer 1,20f). Wenn jedoch das Vertrauen wieder festen Boden unter den Füßen gewinnt, ist dies auf die Spezielle Offenbarung zurückzuführen. Objektiv kommt diese besondere Offenbarung in der Person Christi und subjektiv im  Zeugnis des Heiligen Geistes im Herzen des Menschen zum Ausdruck.

Fazit: Wir haben ein- und denselben wahren und lebendigen Gott, der in Christus seine Barmherzigkeit offenbart und gleichzeitig auch durch die neueren natürlichen und historischen Wissenschaften seine ewige Macht und göttliche Majestät bezeugt. Die Grundhaltung des Christen – und auch der Freien Universität Amsterdams – ist die dankbare und eifrige Anwendung aller verfügbaren Ressourcen. Sie behält sich das Recht vor, alle Ressourcen, die Wissenschaft und Kultur zu Verfügung stellt, zu nutzen und damit die Wahrheit Gottes in seiner allgemeinen und besonderen Offenbarung besser und näher kennen zu lernen.