Weihnachtsgeschichte: Die Talentshow

Zitternd hält sie den Briefumschlag in den Händen. Schweres Papier, Umschlag mit Wasserzeichen. Da steht es schwarz auf weiss. Der Vorsitzende der Geschäftsleitung unterschrieb mit blauem Kugelschreiber. „Sehr geehrte Frau Martensen“. Ihr Blick schweift durchs kleine Küchenfenster. Sie lässt sich auf einen Hocker fallen. Die dicke Kerze flackert im trüben Licht des frühen Dezemberabends. Dies ist ihr 33. Dienstjahr in der Firma. Ihre jüngeren Kollegen würden sagen, „Schnapszahl“. Sie hält innerlich dagegen: „Zahl des potenzierten Leids“. Sie steht mit einem Seufzer auf und stellt sich vor den Spiegel im winzigen Badezimmer. Das grelle Neonlicht fällt auf ihr fahles Gesicht. 1,53 m, 94 Kilogramm, vornüberhängender Kopf, leicht hochgezogene Schulter, Buckel, kurze, säbelartige Beine.

„Wir freuen uns Ihnen mitzuteilen, dass Sie dieses Jahr unseren Talent- und Zukunfts-Event bereichern werden.“ Wie Messerstiche fahren ihr die beiden Worte ins Herz. „Talent“ – etwas, das man ihr nie attestierte; „Zukunft“ – etwas, worüber sie nie nachzudenken wagte. „Wir gestalten zusammen Zukunft.“ Sie schleppt sich in die Küche zurück und setzt eine verkalkte Pfanne mit Wasser auf den Herd. Der Abendtee. „Ihr Auftritt wird 10 Minuten dauern. Überlegen Sie sich für diesen Anlass, mit welcher neuen Idee unser Unternehmen aufblühen könnte.“ Was soll ich nur anziehen? Sie nimmt die Pfanne vom Herd und geht hinüber ins Schlafzimmer. Sie öffnet den Kleiderschrank. Das Scharnier seufzt unter der Last der Jahre und der lockeren Schraube. Ärgerlich stösst sie die Türe zurück. Sie würde den dunkelblauen Rock mit der seidenen Bluse anziehen, dazu das Jacket. Auf einmal huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie würde die Kerze mitnehmen und anzünden. Nur: Was um alles in der Welt sollte sie nur an Ideen vorbringen? Das Grübeln zog sich bis zur Schlafenszeit hin.

Auf der Teppichetage herrscht reger Betrieb. Im geräumigen Vorzimmer sitzt Manuela. Sie ist die Assistentin des Vorsitzenden der Geschäftsleitung. An ihr kommt niemand ungesehen und schon gar nicht ungeschoren vorbei. Sie war es auch, welche die Vorlage der Einladung für den Talent- und Zukunfts-Event zu Handen der Unternehmenskommunikation entworfen hatte. Und nicht nur das. Ihr standen jedes Jahr das Recht und die Pflicht zu, neben den sieben Nachwuchstalenten eigens eine weitere Person dazu zu nehmen. „Du weisst schon, wem bei uns im Laden einmal Gehör geschenkt werden sollte.“ Dieses Jahr hatte sie eine besondere Idee. Sie lud die unscheinbare Sachbearbeiterin aus der Kreditorenabteilung für den Showdown im 7. Stock ein. Sie hatte sich den Namen vorgemerkt, weil sie der 55-jährigen im Namen der Geschäftsleitung ein Gratulationsschreiben zu ihrem 33. Jubiläum zu überreichen hatte. Ein leichter Schauer durchzuckte sie beim Gedanken an die untersetzte Frau. Wie konnte man sich nur SO kleiden, und erst die Frisur! Die wurde nur noch durch die FIGUR getoppt.

Energisch öffnet sich die grosse Flügeltüre. Ein Schwall warmer Luft ergiesst sich in das Vorzimmer. Mit siegesgewissem Lächeln segelt Amanda an Manuela vorbei. Sie würdigt sie keines Blickes. Mit griesgrämigen Jungfern über vierzig brauchte sie sich keinen Moment abzugeben. Es war ohne Zweifel: Seit einigen Minuten war ihr Stern noch etwas höher gestiegen. Denen hatte sie es gezeigt, den Altherren vom siebten Stock. Sie warf ihre Mähne in gekonnter Pose auf die linke Seite und warf einen letzten verächtlichen Blick in Richtung Manuela. Diese tat, was sie immer tat, wenn sie sich unterlegen fühlte. Sie drehte sich zum Aktenschrank und suchte geschäftig in den Unterlagen. Als die Brünette entschwunden und der Duft des schweren Parfums entwichen war, stopfte sie sich verlegen ein Schokobonbon in den Mund.

Der Lift öffnet sich erneut. „Da haben wir ja unsere diesjährige Gewinnerin.“ Beim Anblick von Frau Martensen fasst Manuela wieder Hoffnung. So schlimm stand es mit ihr noch nicht. Es würde auch nie so werden. „Ich wette, dass Sie diesen Anzug schon im Sommer getragen hatte, als ich ihr den Briefumschlag überreichte.“ Den hatte sie sich wohl zum 40. gegönnt. Mit unsicherem Blick musterte Frau Martensen die Umgebung. Es war, als ob sie einen inneren Anker auswerfen würde. Es gab nur eine Person im Raum, die diesen Hilfe suchenden Blick auffangen konnte. Manuela wandte sich geschäftsmässig an Frau Martensen: „Beeilen Sie sich. Die Herren warten.“ Mit einer ungeduldigen Geste wies sie Richtung Flügeltüre. 

„Wer ist an der Reihe?“ „Frau Martensen.“ „Alter? Erscheinung? Masse?“ Gelächter. Man war aufgeräumter Stimmung. Die Idee mit dem Branding war gar nicht so daneben. Das liess sich problemlos ins Portfolio aufnehmen, war strategiekonform. Zaghaft öffnet sich die Türe. „Ou nein, wen hat Manuela denn dieses Mal aufgeboten?“ Die gute Stimmung war mit einem Mal wie weggeblasen. Frau Martensen begrüsste mit halblauter Stimme und gesenktem Kopf die Runde. „Setzen Sie sich.“ Einige lange Sekunden Schweigen. „Wir danken Ihnen für Ihren langjährigen Einsatz.“ Der Schwung war weg. Zaghaft setzte sich sie auf den Rand des Ledersessels. Die Kerze blieb in der Plastiktüte. „Ich …, es geht um die Kreditorenfristen.“ Frau Martensen errötete. Stotternd stösst sie hervor: „Die Rechnungen.“ „Nun?“ „Manchmal sind sie überfällig. Dann werden wir angewiesen, das erste und das zweite Telefonat abzuwimmeln.“ „Das geht an die Adresse des CFO.“ „Wir haben eigentlich 60 Tage als Kreditorenfrist deklariert.“ „Wir müssen das oft hinauszögern, es geht 80, 90 Tage.“ Die Herren beginnen unruhig auf den Sesseln hin- und her zu rutschen. Jetzt kommt diese Sachbearbeiterin und will sie über Kreditorenfristen belehren! „Ihre Idee?“ „Ich … bitte Sie um die Erlaubnis, mich an die Fristen halten zu dürfen.“ „Nun, ich werde mich mit Ihrem Vorgesetzten absprechen. Sie erhalten im Januar Bescheid.“ 

Vielleicht bist du äusserlich etwas besser proportioniert als Frau Martensen. Oder du reihst dich in die Schar derjenigen ein, die per Definition Argwohn gegen die Willkür der Teppichetage hegen. Die Schwachen müssen gegen die Starken zusammenstehen. Vielleicht gehörst du auf die Gewinnerseite, die sich manchmal an den "Losern" aufbauen. Das Aufrichten an noch Schwächeren läuft impulsartig ab. In welcher Position wir auch immer stehen, ob in die Reihe von Frau Martensen, Manuela, Amanda oder den Altherren vom ersten Stock – oder vielleicht in der des aussen stehenden Beobachters: Erst der Blick auf den wahren Gott eröffnet uns den wahren Blick auf uns. Die Diagnose fällt nicht eben schmeichelnd aus: Wir haben ALLE versagt vor Gott, wir werden nie und nimmer vor ihm bestehen können. Ausnahmslos an alle ergeht diese Botschaft Gottes:

Der persönlich-unendliche Gott gab uns das Leben. Deshalb gehören wir ihm. Wir sind ihm Rechenschaft schuldig. Er hat uns als seine Stellvertreter auf der Erde erschaffen.

Doch anstelle ihm Gehorsam zu leisten, wollen wir unsere eigenen Herren sein und rebellieren gegen ihn.

Er sandte seinen einzigen Sohn Jesus als Mensch in seine Schöpfung, ohne dass Gott des Menschen bedurfte oder einen Anlass in ihm gefunden hätte.

Jesus starb nach einem sündlosen Leben stellvertretend an einem Kreuz für die Schuld derer, den er Glauben schenkt.

Es gibt also keinen beziehungslosen Zustand zu Gott. Er ist der Herr aller Menschen. Ein Ja zu seinem Erlösungsangebot bewahrt vor seinem gerechten Zorn und erweckt geistlich tote Menschen zum Leben; ein Nein lässt denjenigen den Preis seines Eigenwillens tragen: Ewige Trennung von Gott.

Nicht unser (fehlendes) Talent ist das, was zählt, sondern der Status unserer Beziehung gegenüber dem, der uns gemacht hat. Soll und darf es bei dir in diesem Sinne Weihnachten werden?