Nachbetrachtung: Lasst uns niemals mit Lifestyle-Tipps zufrieden sein!

Ein Stück eigene Biografie: Die Willow-Begeisterung vor 20 Jahren

Mitte der 90er-Jahre las ich begeistert "Ins Kino gegangen und Gott getroffen" und "Beim Wort zum Sonntag schalt' ich ab", aber auch die kritische soziologische Auseinandersetzung "Willow Creek: Die Kirche der Zukunft?" Ich war damals eben erwachsen geworden. Gemeindespaltung, Ablösung vom Elternhaus und die Gedanken, wie ich als Erwachsener selbst den Glauben leben wollte, spielten damals zusammen. Mich faszinierte der Gedanke, dass ich mich nicht zu schämen brauchte, meine Freunde in ein Kino einzuladen und sie die Möglichkeit hatten, in einem "niederschwelligen" Anlass Gott "kennenzulernen". Ich besuchte während zehn Jahren verschiedene Willow-Anlässe im deutschsprachigen Raum. Sie liefen innerlich stets gleich ab: Gemeinsame Vorfreude, intensives Gruppenerlebnis, bewegende Momente, wenn Tausende gemeinsam sangen, beeindruckende Referate. Aus dem Kongress heraus entstanden neue Vorhaben. Der bedeutendste für mich war der Entschluss, eine Kleingruppe für Teenager zu gründen.

Anlässe für Distanzierte waren (fast nur) für die Kirchen-Insider

Was ich damals nicht realisierte: Aus den Anlässen für "Kirchen-Distanzierte" wurden zu 98 % Anlässe für "Kirchen-Insider". Die "niedrig-schwelligen" Anläss waren die Norm für die neue Generation, die in unseren Reihen aufwuchs. Unsere Generation wurde an ein kinoartiges Programm gewöhnt. Die "Spitzen" wurden gemieden, z. B. die Bibel in den Gottesdienst mitzunehmen, Vokabular wie "Gerechtigkeit", "Sünde", "Gebet"  tunlichst vermieden. Die "Hoffnung für alle"-Übertragung passte optimal zu diesem sanften "Approach". Springen wir geradewegs zu meiner These: Durch diese Form der "Kirchensozialisierung" wurde unsere Generation den biblischen Inhalten weitgehend entwöhnt. Es entstand ein substanzielles Vakuum, das durch ein gut geöltes Programm überdeckt wurde. Richtig eingeschlagen hat es bei der nächsten Generation: Diese wuchs ohne die Inhalte auf, mit denen ich durch meinen Gemeindehintergrund von klein auf gewohnt war. Jemand hat es zugespitzt so beschrieben:

10. Das ständige Gerede von der “relevanten” Kirche hat sie “irrelevant” gemacht. Der historische, 2000 Jahre alte Glaube wurde peppig eingepackt.

9. Sie haben alles erlebt – von Rock-Konzerten über Pizza-Partys – ausser dem, was wirklich Kirche ist.

8. Irgendwann werden sie “smart”, weil die anderen sie für voll nehmen, z. B. die Angostiker in den höheren Ausbildungen.

7. Sie werden ungerüstet in die Welt gesandt, geradezu ignorant im Glauben.

6. Wir haben unser Bestes getan, sie stets wissen zu lassen, dass der Glaube aus Gefühlen besteht und ihnen nie gesagt, dass auch unsere Gefühle “evangelisiert” werden müssen.

5. Sie lagen stets in einem hausgemachten Nest der “Gemeinschaft”.

4. Glaube ist innerlich und subjektiv, nicht historisch und objektiv.

3. Sie sind müde immer zu hören, dass der Glaube “das Beste überhaupt” ist. Kein Platz für Leid, Depression, Kampf und Zweifel.

2. Sie kennen die Wahrheit. Diese lautet: Versuch’s ein bisschen härter, dann wirst du ein bisschen besser (= Moralin).

1. Sie finden diese Art von Kirche (inkl. dieser Meta-Botschaften) überflüssig.

Genau diese Entwicklung habe ich eins zu eins miterlebt. Andere Gemeinden wurden vordergründig davon verschont, vor allem weil sie grösser waren, ein packenderes Programm bieten konnten und eine gemeinsame Jugend-Subkultur bilden konnten (so meine Vermutung). Hier habe ich anlässlich der Jugendkirche-Sammelbewegung ICF meine Eindrücke beschrieben.

Ein verändertes Verhalten im Gottesdienstbesuch

Nachdem es diese Jugendlichen aus der Gemeinde "hinausgespült" hatte, bemerkte ich ein verändertes Verhalten bei der Generation darüber. Es begann die Sehnsucht nach dem Gottesdienst zu fehlen, wie sie Martyn Lloyd-Jones so treffend beschrieb:

Dies ist das allerwichtigste Element, das wir in Bezug auf unsere Gottesdienste wiederbeleben müssen, nämlich den Gedanken, dass man nie weiss, was genau geschehen wird. Wenn der Prediger immer genau weiss, was geschehen wird, dann sollte er meines Erachtens überhaupt nicht auf einer Kanzel stehen. Was den Dienst des Wortes so herrlich macht, ist nämlich, dass man nicht weiss, was alles geschehen könnte.

… Dem sollte eine Frage folgen: Warum sollte ein Christ sich nicht danach sehnen, so viel wie nur irgend möglich davon zu bekommen? … Mit jemandem, der behauptet, Christ zu sein und der kein Verlangen danach hat, alles das zu haben, was man aus dem Dienst der Kirche empfangen kann, stimmt in geistlicher Hinsicht etwas Grundlegendes nicht.

(Wenn Leute die Länge der Predigt vorschreiben wollen) Dies ist nicht die Haltung, die sie bei einem Spiel oder irgendeiner Fernsehsendung an den Tag legen. Dort ist das Problem, dass sie zu früh endet. Dasselbe gilt für ein Fussballspiel oder ein Baseballspiel oder was auch immer sie sonst interessieren mag – das Leidige ist, dass diese Dinge schon so schnell ein Ende nehmen. … Ich stelle nicht erneut die Frage, ob man annehmen soll, dass diese Leute einfach nur deshalb als Christen gelten, weil sie lediglich zum Gottesdienst gehen. Ich gehe nämlich davon aus, dass, wenn sie Predigten diese zeitlichen Begrenzungen auferlegen, sie mehr oder weniger bekennen, dass sie keine Christen sind, dass es ihnen an geistlichem Leben fehlt.

(Ich bin) zur der Schlussfolgerung gelangt, dass einige Leute in eine Kirche und in einen Gottesdienst zu gehen scheinen, um nach Hause zu gehen! Ihr Hauptgedanke scheint zu sein, hinauszugehen und nach Hause zu gehen. Warum kommen sie dann aber überhaupt? Das ist die Frage, die meines Erachtens gestellt werden muss.

Das Gemeindeleben wird aus der Optik des Konsumenten betrachtet, wie ich im Aufsatz "Der Gottesdienst-Konsumententest" darzustellen versucht habe.

Ein soziologische und geistliche Deutung

David F. Wells (*1939), US-Amerikaner, der seine Kindheit und Jugend im afrikanischen Busch verbrachte, lieferte zur ganzen Entwicklung die schlüssige Erklärung, die ich 2014 auf Josia – Truth for Youth so zusammenfasste:

Ich habe selbst die letzten 20 Jahre in einem „Marketer“-Umfeld zugebracht. Was mit Enthusiasmus angefangen hat (v. a. hinsichtlich evangelistischer Bemühungen), entpuppte sich als weitere „Insider“-Geschichte. Wir haben uns – mit viel gutem Willen – vor allem selber unterhalten. Entsetzt musste ich mit ansehen, dass eine Generation Kinder aus diesem Umfeld genau das wurden, was Wells ankündigt: Dem Glauben entfremdete, der Konsumgesellschaft gleich geschaltete Menschen („the children of these evangelicals will become full-blown liberals“, S. 2). Im Bemühen, relevant zu sein, haben wir ihnen den Abklatsch unserer Alltagskultur vermittelt: Kirche als weiterer Kanal des Konsums, mit ständigen Wahlmöglichkeiten, vielen „Geschenken“ und wenig Inhalt. Das Umfeld der Babyboomer gefiel ihnen nicht, und sie verließen uns. Wir sind das geworden, wovor wir uns am meisten fürchteten: OUT. Diese Angst war dieselbe, welche das liberale Christentum schon vor Jahrzehnten umtrieb.

Guter Rat ist teuer

Im Hinblick auf die nächste Generation beschäftigt mich die Frage: Wie kann ich sie so ins Erwachsenenalter begleiten, dass sie den Herausforderungen ihrer Generation durch Gottes Gnade begegnen können? Wie werden sie für den spätmodernen eisigen Wind gerüstet? Sie merken schon heute, dass an vielen Stellen viele Geschichten, mit einigen Bibelversen garniert, geboten wird. Lässt man die Storys weg, bleibt nicht mehr viel übrig. Die Hamburger-Gemeinde "Arche" hat vor einigen Jahren eine geistliche Neuorientierung vollzogen, die sie hier eindrücklich beschrieben hat:

Erstes und vorrangiges Merkmal reformierter Lehre ist ihre Gott zentrierte und nicht Menschen zentrierte Ausrichtung. Nicht der Mensch, sondern Gott ist die Achse, um die sich alles dreht. Meistens wird zuerst gefragt, was bringt Gott dem Menschen, zum Beispiel im Evangelium? Wozu ist es dem Geschöpf dienlich? Aber die Bibel macht uns klar, dass der allererste Grund des Heilsplanes nicht der Mensch, sondern die Ehre Gottes ist.

Gottes Wort wieder ins Zentrum rücken

Ich bin mit Holger Lahayne einig, dass Bill Hybels "ein integrer Pastor mit einem großem Herz für Evangelisation und die Gemeinde ist". Was mir jedoch schon am Leiterkongress 2008 Sorgen bereitete, war die tangentiale Berührung mit Gottes Wort. Es wurde kein einziger Bibelabschnitt ausgelegt. Dafür gab es jedoch eine Menge Management- und How to-Präsentationen. Dass man an einem solchen Grossanlass kaum die Bibel aufschlägt, hat aus meiner Sicht zwei fatale Konsequenzen. Man zeigt den vielen Teilnehmern, dass sie für das Leben kaum Bedeutung hat. Und man kann die Inhalte problemlos ersetzen, denn sie spielen nur eine untergeordnete Rolle.

Eine zentrale Rolle für die Neuorientierung spielen die Auslegungspredigten. Das reformatorische Netzwerk Evangelium21 hat hier verschiedene Artikel zur Verfügung gestellt. Geben wir Gott das Mikrofon zurück: "Lasst uns also unsere Prediger ermutigen, Gott das Mikrofon zu geben, indem sie uns die Bücher der Bibel erklären. Lasst uns niemals mit 'Lifestyle-Tipps' zufrieden sein!"

Vom 10. – 12. März findet in Hamburg die E21-Konferenz "Gott bei seinem Wort nehmen" statt. Im gleichnamigen Buch fasst der Konferenzredner Kevin DeYoung zusammen.

Die Bibel enthält alles, was wir für die Errettung und ein gottesfürchtiges Leben benötigen. Wir brauchen keine neue Offenbarung vom Himmel (Genugsamkeit). Die rettende Botschaft von Jesus Christus ist ausdrücklich in der Heiligen Schrift gelehrt und kann von allen verstanden werden, die dafür ein Gehör haben. Wir brauchen kein offizielles Magisterium, das uns auslegt, was die Bibel dazu sagt (Klarheit). Das letzte Wort gehört immer Gott. Wir dürfen der Wissenschaft, der menschlichen Erfahrung oder kirchlichen Konzilien nie den Vorrang vor der Schrift geben (Autorität). Die allgemeine Offenbarung rettet nicht. Wir können Gott nicht ausreichend durch persönliche Erfahrung oder menschlichen Verstand erkennen. Wir brauchen Gottes Wort, das uns darüber lehrt, wie wir leben sollen, wer Christus ist, und wie wir gerettet werden sollen (Notwendigkeit).