Interview: Wer war Herman Bavinck?

Es ist schon eine Weile her, seit meine Dissertation über Herman Bavinck veröffentlicht worden ist. Bonner Querschnitte ein Interview veröffentlicht.

Wer war Herman Bavinck?

Hanniel Strebel: Herman Bavinck (1854-1921), niederländischer Theologe, Professor der Dogmatik, Buchautor, Kirchenpolitiker und Senatsabgeordneter, gilt bis heute als einer der führenden niederländischen reformierten Denker. Sein Hauptwerk, die vierbändige Reformierte Dogmatik, ist in den letzten Jahren in verschiedenen Sprachen erschienen. Eine deutsche Übersetzung ist in Bearbeitung. Während Bavinck in den USA und auch in Asien eine (begrenzte) Renaissance erlebt hat, ist er im deutschen Sprachraum kaum bekannt.

Abgesehen von Bavincks Wiederentdeckung im angelsächsischen Raum: Hat er auch für Europäer etwas zu sagen?

Bavinck erlebte während seines Lebens tiefgreifende gesellschaftliche, kirchliche und politische Umwälzungen: Vorangestellt werden muss seine eigene geistliche Entwicklung, die während seines Studiums entscheidend geformt wurde. Bavinck erhielt seine Ausbildung an der theologisch liberalen Universität in Leiden, blieb aber den Reformierten Bekenntnissen lebenslang verpflichtet. Er wehrte sich gegen die Trennung von universitärer und kirchlicher Ausbildung.

Welchen Beitrag leistete Bavinck zur Bildungspolitik?

Zuerst war Bavinck Universitätsprofessor für Dogmatik und als ein Vertreter der niederländischen Hochschullandschaft. Zwanzig Berufsjahre war Bavinck Dozent und Rektor der kirchlichen Ausbildungsstätte im ländlichen niederländischen Kampen. Weitere 20 Jahre war er an der Freien Universität in Amsterdam tätig, also in einem städtisch-weltoffenen Umfeld.

Zudem griff Bavinck während Jahrzehnten in den niederländischen Bildungskampf (schoolstrijd) auf der Seite der konfessionellen Reformierten ein. 1920 erlangten private Schulen nicht nur staatliche Anerkennung, sondern gleichberechtigte finanzielle Unterstützung.

In den letzten zehn Lebensjahren war Bavinck zudem Mitglied der zweiten nationalen Kammer des Parlaments, wo er auch Bildungsfragen thematisierte.

Das hört sich noch immer nach geschichtlichem Interesse an.

Bavinck vereinte mit seiner Aufgaben- und Rollenvielfalt innerhalb eines von markanten Wechseln und soziologischen Entwicklungen geprägten Lebens eine geballte Ladung an Ideen, deren Umsetzung er selbst erlebte und reflektierte. Besonders wertvoll in dieser Ertrag für den Bereich der Bildung. Übrigens nahm die Bavinck-Forschung in den 1920er- und 1930er-Jahren dort ihren Anfang.

Was hat Bavinck inhaltlich zum Thema Lernen zu sagen?

Eine ganze Menge. 40 Jahre Berufserfahrung im hochschulpolitischen Umfeld paarte sich mit großem Interesse an pädagogischen und psychologischen Themen. Seine ersten Werke zur Psychologie und Pädagogik entstanden noch während seiner Zeit in Kampen und waren in gewisser Weise beide in Ergänzung zu seiner Dogmatik geschrieben worden. In seinen letzten Lebensjahren veröffentlichte Bavinck drei weitere pädagogische Werke. Ein Biograph Bavincks spricht von der Pädagogik als der „Liebe seines Lebens“. Mit Interesse verfolgte Bavinck beispielsweise die Entstehung und Verbreitung der Reformpädagogik und den damals neu aufgekommenen Zweig der Entwicklungspsychologie.

Weshalb braucht es eine „Theologie des Lernens“?

Das kann ich aus meiner täglichen Arbeit heraus beantworten, wo es um Lernprozesse von Erwachsenen geht. Scheinbar stehen Methoden, sprich die Art und Weise der Umsetzung, im Vordergrund. Doch eigentlich steht im Hintergrund eine andere Frage, die jedoch nicht gestellt bzw. still vorausgesetzt wird: Warum lerne ich? Jeder Mensch ist bewusst oder unbewusst auf ein Ziel „hingeordnet“. Bavinck stellte die Zielfrage an den Anfang seines Werkes „Prinzipien der Pädagogik“.

Welche weiteren Fragen stellte sich Bavinck?

Jedes „Lernarrangement“ setzt ein bestimmtes Menschenbild voraus. Kennzeichnend für die letzten 200 Jahre ist das Ausklammern der Sünde aus den Lernkonzepten. Der offensichtliche Tatbestand der Sünde musste deshalb anderweitig verortet werden. Bavinck setzte sich intensiv mit den Folgen dieser Entwicklung auseinander.

Beschäftigt sich Ihre Dissertation nicht eher mit einer christlichen Bildungsphilosophie?

Die Fragen, warum jemand lernt und wie es um den Lernenden selbst bestellt ist, sind vorrangig theologischer Natur. Zusätzlich behandle ich im letzten Teil der Dissertation eine weitere Frage. Diese greift tatsächlich in philosophisches Gelände hinein: Wie kann der Lernende erkennen, was wahr ist? Es geht dort um die Epistemologie (Erkenntnislehre) Bavincks.

Weshalb ist diese Frage wichtig?

Seit Jahren ist die Pädagogik zu einem Hort skeptischer Wirklichkeitskonzepte geworden. Diese Strömung ist insbesondere in den Sozialwissenschaften unter dem Sammelbegriff des „Konstruktivismus“ bekannt geworden. Für einen Kenner der europäischen Ideengeschichte sind die Postulate nichts Neues.  Bavinck selbst vertrat zeitlebens – gegen die zeitgenössischen Strömungen, die entweder in Richtung Rationalismus oder Empirismus gingen – den dritten Weg eines „kritischen Realismus“. Wenn man bedenkt, dass sich in den letzten Jahren die Vertreter des Neuen Realismus zusammengefunden haben und derzeit zunehmend an Beachtung gewinnen, wird einem die Aktualität von Bavincks Überlegungen deutlich.

Vertrat Bavinck als Verfechter einer konfessionellen Schule eine „christliche Bildung“?

Hier gilt es, sorgfältig zu unterscheiden. Bavinck war sich sehr wohl bewusst, dass sein eigenes Land durch einen unaufhaltbaren Säkularisierungsprozess ging. Damit stellte sich die Frage, wie die verschiedenen Religionen (von denen der Säkularismus eine ist) nebeneinander existieren konnten. Bavinck ging die Frage grundsätzlicher an, indem er untersuchte, in welchem Verhältnis Christentum und Kultur zueinander stehen. Das war eine der Hauptfragen, mit der sich Bavinck zeitlebens beschäftigte. Ich habe den zweiten Teil der Dissertation diesem Thema gewidmet. Ein Grund mehr, das Buch zu lesen.

Was ist Ihre wichtigste Erkenntnis?

Es scheint mir, dass wir in der Pädagogik und Andragogik (Erwachsenenbildung) nicht in erster Linie unsere methodische Breite vertiefen müssen. Viel wichtiger ist die Auseinandersetzung mit übergeordneten Fragen, welche die Weltsicht betreffen.

Wer soll die 400 Seiten lesen?

Der Haupttext– die ausführlichen Fußnoten und die Anhänge weggenommen – umfasst etwa die Hälfte. Damit lässt sich der Text in zehn Tagen bewältigen, wenn täglich eine Stunde dafür eingesetzt wird. Ich habe darauf geachtet, dass am Ende jedes Hauptkapitels alle wesentlichen Gedanken in konzentrierter Form zusammengefasst werden. Ich empfehle die Lektüre lehrenden Christen auf allen Stufen, gerade auch im universitären Bereich. Auch Pastoren und an Theologie interessierten Christen werden in Bavinck eine „satte Kost“ vorfinden. Bavinck ist hochaktuell.

Was ist das nächste Thema, über das Sie schreiben werden?

Bavinck hat mich angeregt, mich noch vertieft mit dem Thema Christentum und Kultur auseinanderzusetzen. Ich bin deshalb daran, eine kleine Kulturtheologie zu schreiben. Dabei vergleiche ich Herman Bavinck mit zwei anderen systematischen Theologen, welche sich intensiv und in enger Verbindung mit der eigenen Biografie damit beschäftigt haben: Paul Tillich (1886 – 1965) und David F. Wells (* 1939).

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