Buchbesprechung: Renaissance – Reformation für die Evangelikalen

Os Guinness, Renaissance: The Power of the Gospel However Dark the Times. IVP: Downers Grove, 2014. 193 Seiten. Euro 7,33 (Kindle-Version).

Die Frage

Hat der christliche Glaube überhaupt eine Zukunft, und wenn ja, welche? Die Antwort folgt vorab mit einem kräftigen Ja. Das Evangelium verfügt über die Kraft zu erneuern!

Der Autor

Was würde Os Guinness (* 1941), Sprössling der Guinness-Dynastie und unter Peter Berger promovierter Religionssoziologe, zu diesem wichtigen Thema schreiben? Guinness versteht sich als Brückenbauer zwischen akademischer Sphäre und Alltagswelt. Er verfügt über eine globale Perspektive, denn er kennt China ebenso wie die USA und Europa. Dieser Blick ist für mich als Kontinentaleuropäer sehr bereichernd. Dass er prägende Evangelikale des 20. Jahrhunderts wie Schaeffer, Stott oder Lloyd-Jones persönlich kannte, verbürgt eine klare Linie ebenso die Sensibilität für die „Zeichen der Zeit“.

Die Absicht

Dieses kurze Buch stellt eine Art Kulturkritik dar, besser gesagt, es beschreibt die Grundlinien zum Leben einer christlichen Gegenkultur. In Guinness‘ eigenen Worten wird die Vision einer realistischen, dringend nötigen christlichen Renaissance entworfen (Pos. 350). Die Inhalte gehen auf Vorträge an nationalen Gebetstreffen zurück. Guinness geht davon aus, dass wir uns in einem „Augustinischen Moment“ befinden. So wie der Kirchenvater den Untergang des Römischen Reiches und die Konturen einer aufziehenden neuen Zeit erlebte, befinden wir uns heute ebenfalls in einer Übergangszeit. Augustinus agierte als Brückenbauer zwischen einer alten, untergehenden und einer sich abzeichnenden neuen Ordnung (267). Zeitgenössische Anregung erhielt der Autor durch die Debatte nach dem Zweiten Weltkrieg, als Gelehrte konfessionsübergreifend die Frage diskutierten: Verdient unsere Kultur überhaupt noch die Qualifizierung „christlich“? 60 Jahre später steht der Westen in einer grossen Krise. Die utopischen Hoffnungen der Aufklärung haben sich definitiv zerschlagen. Der erstarkende Islam, der (wirtschaftliche) Liberalismus sowie das selbst produzierte Chaos von Ideen und Lebensstilen sorgen für tiefe Verunsicherung. Manche Christen – ich zähle mich auch dazu – sind dazu müde von den Slogans wie „relevant sein“, „die Gesellschaft transformieren“ und „einen Unterschied ausmachen“. Dies alles deutet auf unsere tief verunsicherte postchristliche Identität hin. Würde sich die weltweite Gemeinde von der kulturellen Umklammerung (cultural captivity), in der sie sich befindet, lösen können (291)?

Die Agenda

Welcher inhaltlichen Agenda folgt Guinness? In einem nachdenklichen und gleichzeitig eloquenten Stil durchschreitet er ein weit abgestecktes Gelände. Die erste Zone: Welche globalen Aufgaben stehen für die Gemeinde, deren „DNS“ eine globale Vision enthält, bevor? Im einem zweiten Teil beschäftigt er sich mit dem Argumentationsmuster „Jesus + Nothing“, einer Charakterisierung „Christus gegen die Kultur“ und befindet diese als unzulänglich. Im dritten Abschnitt stellt er die Frage, wie christliche Treue und Gehorsam der Wahrheit gegenüber die Welt verändern könne. Damit eng verbunden ist viertens die Dynamik des Königsreichs, inbesondere das Nebeneinander-stehen von göttlich souveränem Wirken und dem Wahrnehmen menschlicher Verantwortung. Der Schlussstein wird mit der Botschaft „das goldene Zeitalter steht noch bevor“ gesetzt.

Die Antworten

Welche konkreten Antworten bietet Guinness auf seine eingangs gestellte Frage?

  1. Es gilt die Vision vom Königreich Gottes im Auge zu behalten. Guinness orientiert sich an der augustinischen Zwei-Reiche-Lehre. Unser finales Ziel ist Gottes Reich, nicht das dieser Welt. Wir werden uns in die Reihe der Glaubensvorbilder einreihen, die ihr Leben in der noch nicht realisierten Hoffnung verbracht haben (Hebr 11).
  2. Guinness ist (meines Erachtens zu Recht) zurückhaltend, eine zu pessimistische Optik einzunehmen. So rühmt er den Lauf der westlichen Geschichte als Sieg des Lammes über alle bestimmenden Mächte dieser Erde. Er bezieht dies beispielsweise auf den Siegeszug des Evangeliums in heidnischen Europa nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches.
  3. Ebenso verliert der Autor die gegenwärtige erstaunliche globale Entwicklung der Gemeinde nicht aus dem Blick. Welche Aufbrüche hat Gott in Afrika, Asien und Südamerika geschenkt! Allerdings fügt er sogleich warnend hinzu: Manche Entwicklungen der Moderne sind in diesen Gebieten der Erde noch nicht richtig angekommen bzw. beginnen erst jetzt Fuss zu fassen.
  4. Das moderne „management by metrics“ ist weder Patentrezept noch Lösung für die Probleme der Moderne. Wie Guinness schon in anderen Büchern (wie „Dining with the Devil“) eindringlich erläutert hat, erweist sich das ständige Messen und Vergleichen als methodische Fehlleitung. Methoden ersetzen unersetzliches Gottesvertrauen.
  5. Guinness definiert „Kultur" als „ein Weg gemeinsam gelebten Lebens“ („a way of life lived in common“, 753). Wer sich schon tiefer im Thema Kulturkritik vergraben hat, ist dankbar um solch bündige Definitionen und Antworten.
  6. Guinness versäumt es nicht, zwei Seiten der christlichen Anthropologie herauszustellen: Die Würde des Menschen durch die Erschaffung im Ebenbild Gottes und seine Fähigkeit zur Kulturentwicklung ebenso wie die Perversion und Entstellung dieser Entwicklung durch die Sünde. Mit Bezug auf C. S. Lewis beschreib er Christen als Welt-verneinend („world denying“) und gleichzeitig Welt-bejahend („world affiriming“) Dieses Spannungsfeld darf und kann nicht aufgelöst werden.
  7. Besonders tröstlich empfand ich die Erinnerung, dass der christliche Glaube eine einzigartige Chance zur Erneuerung und Besinnung beinhaltet. Im Gegensatz zu Ideologien wie beispielweise dem Marxismus sind Christen in der Lage, eigenes Versagen als Sünde zu bekennen. Dies bildete in ihrer Geschichte immer wieder den Beginn von neuen Aufbrüchen.
  8. Es gelingt dem Autoren, die Balance zwischen göttlicher Souveränität und menschlicher Verantwortung herauszustreichen. Diese beiden Aspekte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden! Einen bleibenden Eindruck erhielt ich als Leser von den Ausführungen über die Schiffsreise von Paulus in Apostelgeschichte 27. Im Sturm war Schiff samt Mannschaft unverkennbar Gottes souveränem Wirken unterstellt. Dies bewirkte bei Paulus, der als Gefangener vermeintlich über einen begrenzten Wirkungsraum verfügte, nicht nur grosse Freimütigkeit, sondern auch einen erstaunlichen Aktionsradius.
  9. Das Warnschild, das über dem ganzen Buch aufleuchtet, lässt sich so beschreiben: Unsere Therapeuten und Consultants dürfen niemals unser Vertrauen in Gottes mächtiges Handeln ersetzen. Leider leben wir weitgehend so, wie wenn wir unseres Schöpfers gar nicht mehr bedürfen würden. Das täuscht uns über unseren wahren Zustand hinweg.

Fazit

Das Buch ist nüchtern und gleichzeitig hoffnungsvoll gehalten. Es finden sich natürlich Anklänge an frühere Werke, z. B. wenn Guinness die Megatrends der Moderne und deren Einfluss auf den Evangelikalismus beschreibt. Guinness sieht das Buch in gewisser Weise als „Begleitschreiben“ des „Evangelical Manifest“ (2008), an dem er mitgewirkt hatte und das im Wortlaut im Anhang wiedergegeben ist. Etwas vom faszinierendsten sind die kraftvollen Gebete am Ende jedes Kapitels. Sie bilden einen wohltuenden Kontrapunkt zu unseren immer gleichen „bitte, bitte, gib mir…“-Formeln.