Aufsatz: Luthers Auslegung des Buches Prediger

Jürgen-Burkhard Klautke stellt in einer Artikelserie die überaus aktuellen Vorlesungen Luthers über das Buch Prediger vor (Teil I, Teil II).

Als Luther sich vor die Aufgabe gestellt sah, das Predigerbuch auszulegen, stand er vor der Frage: Ruft dieses biblische Buch dazu auf, diese Welt zu meiden, ihr den Rücken zuzukehren? Nach hartem geistigem Ringen erfasste Luther, dass eine derartige Deutung den Sinn des Buches Prediger verfehlt, übrigens genauso wie die epikuräische oder die fatalistische Deutung dieses Buches.

Es geht nicht darum Dinge zu meiden, sondern sein Herz nicht an sie zu hängen.

Dieses Buch aufzufassen als Aufruf, der Welt zu entfliehen und die Schöpfung zu verachten, hat, so lehrt Luther, in eine geistige Verdunklung und dadurch zu zahlreichen Irrwegen geführt. Dieses Buch fordert nicht dazu auf, die äußeren Dinge zu meiden, sondern es geht darum, das Herz nicht an sie zu hängen.
In seiner einleitenden Vorlesung stellt er fest: „Thema und Absicht dieses Buches ist es also, dass es uns unterweist, die gegenwärtigen Wohltaten Gottes und seine Schöpfung mit Danksagung zu gebrauchen. Sie sind uns durch Gottes Güte in reichem Maß geschenkt worden, ohne Sorge um die künftigen Dinge, nur dass wir ein ruhiges und stilles Herz haben und ein fröhliches Gemüt, nämlich indem wir zufrieden sind mit dem Wort und dem Werk Gottes…"

Jeder Mensch, der in der Geschichte verantwortlich handelt, scheitert immer wieder und steht vor den Scherben seiner Pläne. Weshalb?

Angesichts der unausrottbaren Sündhaftigkeit (Eitelkeit/Nichtigkeit) des Menschen, der sein Leben führt, so als ob es keinen Gott gäbe, ist dies Gericht Gottes. Für diese Einschätzung sind ihm der Verlauf der Reichstage in Deutschland ein anschaulicher Beleg: „Daher macht Gott da, wo die scheinbarste Weisheit und das fleißigste Wirken ist, am meisten die Anschläge zunichte, was offenkundig in unseren Zeiten geschieht, in dem die Fürsten und Bischöfe Deutschlands durch so viele Reichstage, so viele Ratschläge nichts ausgerichtet haben. Selbst dadurch aber kann uns Gott nicht dahin bringen, dass wir ihm unsere Ratschläge unterwerfen. Darum wird es eine unselige Mühe genannt, das heißt, die da quält und martert.“

Das Buch Prediger wurde für Luther zu einer Brille, um seine Situation und Zeit angemessen zu beurteilen.

Das Buch Prediger fungiert also für Luther als eine Brille, mit deren Hilfe er die um ihn herum tobenden scheinbar gigantischen Geschichtskräfte in den rechten Proportionen zu erfassen vermag: Sowohl das päpstliche Rom mit seinen universalen Machtansprüchen als auch der überall sich erhebende Freiheits- und Emanzipationswahn im persönlichen und gesellschaftspolitischen Denken und Treiben des Mannes auf der Straße, und nicht zuletzt der lawinenartig heranrollende Islam enthüllen sich ihm im Licht des Buches Prediger als substanzlose, leere Hülsen: als Eitelkeit der Eitelkeiten, als Nichtigkeit der Nichtigkeiten. Was ist denn in der Geschichte schon jemals von all den hochgestimmten menschlichen Plänen geblieben, sobald sie auf die Wirklichkeit dieser Welt trafen? Gerade auch die anscheinend Allermächtigsten und Allerbegabtesten mussten verstehen lernen, dass in der Perspektive unter der Sonne die Dinge anders laufen als sie sich das vorgestellt hatten.