Kolumne: Wir haben viel zu verlieren, weil wir das Wichtigste verloren haben

Ich lebe sehr gerne in der Schweiz. Wenn ich morgens aufwache, blicke ich vom Bett aus dem Fenster in den grünen Wald unseres Hausbergs, dem Üetliberg. Wenn ich aus dem Haus trete, werfe ich einen dankbaren Blick auf unseren Garten. In Fussdistanz befindet sich eine Badeanlage, die vom Architekten und Schriftsteller Max Frisch entworfen und vor einigen Jahren sorgfältig renoviert wurde. Ich besteige mit Freude neue Niederflurbusse und die S-Bahn, Postautos und auch mal ein Schiff. Ich liebe es, durch die Altstadt von Zürich zu gehen und in der Pestalozzi-Bibliothek der Altstadt, der Zentralbibliothek oder der Bibliothek der Theologischen Fakultät einen Zwischenhalt einzulegen. Gerne spaziere ich auch durch das Zürcher Seefeld oder sitze unter den Linden vor dem St. Peter. Sobald der Zürichsee 16 Grad warm ist, springe ich freudig ins kalte Nass. Diese Aufzählung könnte ich noch lange fortsetzen.

Kürzlich ist ein Brief ins Haus geflattert. Auf wenigen Seiten wurde mir erklärt, dass die Kasse der beruflichen Vorsorge den Umwandlungssatz für die Renten senken würde. Während meine Eltern noch rund 7 % der einbezahlten Beträge jährlich beziehen können, stehen wir im Moment bei 5 %. Ich merkte, wie sich ein leises Unbehagen bei mir einschlich. Am gleichen Tag spazierte ich mit meiner Frau durch die schönen Grünanlagen unserer Genossenschaft. Zwei Gärtner sorgen für den Unterhalt der grossen Fläche. Doch es fällt uns auf, dass die Genossenschafter selbst kaum mehr Sorge für die gemeinsamen Flächen aufbringen. Da liegt oft Abfall herum. Sträucher, Bäume und Unkraute wachsen ungehindert, es kümmert niemanden. Wo bleibt die Sorge für die gemeinsame Umgebung? Meine Gedanken wandern weiter zur Versorgung mit Lebensmitteln und Kleidern. Die Nahrungsmittel werden irgendwo in Europa oder auf einem anderen Kontinent angebaut; die Stoffe werden in Bangladesh oder China verarbeitet. Zu welchen Bedingungen, darüber wollen wir uns keine grossen Gedanken machen.

Oder blicken wir auf die religiöse Verfassung der Schweizer. Die grosse Mehrheit ist säkular religiös. Lebenspraktisch bedeutet dies, dass sie um zwei Dinge besorgt sind. Erstens geht es um den eigenen Wohlstand. In einer Predigt habe ich dies kürzlich auf die Formel „reisen, lieben, Geld verdienen“ gebracht. Zweitens suchen sie ihre Ruhe. Damit meine ich weniger das innere Zur-Ruhe-Kommen als vielmehr das Ungestört-Bleiben. Wir kennen unsere Nachbarn nicht. Wir schliessen unsere Türe hinter uns. Wir pflegen unser Gärtlein und halten unsere Wohnung sauber. Es ist unser kleines Paradies. Wir beten uns selbst an. Wir stehen im Mittelpunkt unseres kleinen Universums. Die Optimierung unserer Lebenszeit steht an vorderster Stelle.

Unwillkürlich schweifen meine Gedanken zu zwei Büchern, die ich in den letzten Monaten gelesen habe. Ein junger Mann schreibt über seine Jugend in Nordkorea. Die Menschen verhungern in den Häusern. Die Kinder haben keine Kraft um zur Schule zu gehen. Manche besteigen die Züge auf dem Dach, um in den Bergen Kräuter und Gräser zu sammeln; auf dem Weg werden ihnen Arme und Beine abgeschlagen. Oder mir kommt der Chinese in den Sinn, bei dem Krebs diagnostiziert worden ist. Die Operation übersteigt seine finanziellen Verhältnisse bei weitem und auch die der nächsten Generationen. Also geht er geduldig unter unsäglichen Schmerzen dem Tod entgegen. Er ist sehr abgemagert, weil er kaum mehr Nahrung aufnehmen kann.

Meine Gedanken sind also zwiespältig, wenn ich an mein eigenes Land denke. Auf der einen Seite leben wir seit Jahrzehnten vom Wohlstand, welche die früheren Generationen aufgebaut haben. Schwarzmaler wollten die Schweiz schon lange ins Unglück gestürzt sehen. Während der Ölkrise 1975, dem Finanzcrash 1987 oder 2008 fragte man sich: Wie lange würde es noch so weitergehen? Inzwischen geht es einfach weiter wie in den Tagen Noahs und Lots, von denen die Bibel im ersten Buch Mose berichtet. Die Menschen in der Schweiz rennen ihrem eigenen Glück nach. Sie tun das, was in ihren eigenen Augen recht ist. Die 68er-Generation, jetzt im Rentenalter, kann auf Jahrzehnte des üppigen Wachstums zurückblicken, der Technologisierung und der Verbesserung der Gesundheitsversorgung. Pro Person ist genügend Geld vorhanden, um sich die letzten 20 Lebensjahre alles zu leisten, was das Herz begehrt.

Doch wie steht es um die Seele der Schweizer? Ein christliches Volk sind sie nicht mehr. Sie leben von vergangenem Kapital, einer stattlichen Kapitaldecke. Doch das Fundament ist zunehmend morsch.  Sie sitzen auf einem Berg Kapital, in wohl hergerichteten Häusern, in einem Land, das einem Garten gleicht. Doch Achtung: Diese vermeintliche Sicherheit ist in Windeseile weg. Wir haben viel zu verlieren, weil wir das Wichtigste schon verloren haben. Ich gehe davon aus, dass die Zwei-Klassen-Gesellschaft immer mehr Realität wird. Die einen können sich es (die Gesundheitsversorgung, die Luxusreisen, die Häuser) leisten, die anderen nicht. Die Grundstücke und Inseln der Seligkeit werden eingezäunt, wie das in anderen Ländern schon längst der Fall ist. Die modernen Arbeiter werden ausgebeutet mit befristeten Arbeitsverträgen, Lohnkürzungen und sehr hohen Mieten, mit hohem psychischem Druck, schnellen Durchlaufzeiten, aber auch mit dem Damoklesschwert der Auslagerung ganzer Bereiche ins günstige Ausland.

Zwischen der inneren Gesundheit und dem äusseren Wohlstand gibt es eine langfristige Korrelation. Vishal Mangalwadi, indischer Gelehrter, hat dies in seinem Buch „Das Buch der Mitte“ eindrücklich aufgezeigt. (Das nächste Werk „Was Europa braucht“ wird in nächster Zeit erscheinen.) Ich pflichte ihm bei: Die meisten Errungenschaften sind auf die biblische Ethik zurückzuführen: Mitmenschlichkeit, die Entwicklung des Denkens, die Technik, die Demokratisierung der Bildung, die Literatur, die Verpflichtung der Medizin zur Fürsorglichkeit, aber auch die Unparteilichkeit der Gerichte. In diesen „weichen“ Bereichen erwarte ich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten die grösste Veränderung. Die Korruption wird zunehmen. Durch den Zerfall der Familien werden die psychischen Probleme ansteigen und damit die innere und äussere Armut mancher Menschen. „Relativismus ist der einzige Wert, den eine Gesellschaft, die keine endgültigen Wahrheiten akzeptiert, noch vorschreiben kann.“ (Das Buch der Mitte, 505) „Deshalb lautet die Frage nicht so sehr, ob es für den Westen Hoffnung gibt, sondern ober der Westen die Demut hat, sich wieder der offenbarten Wahrheit zuzuwenden. Wird es ihm gelingen, den Glauben wiederzuerlangen, der allein Hoffnung schenkt?“ (506-507) "Eine geistliche Erweckung, die den Menschen Freude, Lebenssinn und Standfestigkeit inmitten schwerer Prüfungen schenkt und ihnen die Kraft gibt, die zu lieben, die sie schlecht behandeln – eine solche Erweckung kann offensichtlich weit mehr bewirken als nur die westliche Familie zu retten. … Sie kann zur Neubelebung einer Wirtschaft beitragen, die durch Werteverlust, Gewissenlosigkeit, gegenseitiges Misstrauen, belanglose Rechtsstreitigkeiten, lähmende Regeln, privaten Diebstahl und allgemeine Korruption am Boden liegt." (516) Dies ist mein Gebet an unserem heutigen Nationalfeiertag.