Input: Prämissen der realistischen Phänomenologie

Ich habe aus der "Anthologie der Realistischen Phänomenologie" (ontos: Frankfurt/Paris/Lancaster/New Brunswick, 2009) den einführenden Aufsatz von Josef Seifert – einem katholischen Philosophen – gelesen (S. 13-59). Das ist eine bedenkenswerte Richtung der Philosophie. Für den philosophisch geübten Leser:

Das Wesen der realen Person: Eine volle Zuwendung der Phänomenologie zum Wesen und Wert der realen, lebendigen Person anstatt einem abstrakten, transzendentalen Ego wurde erst auf dem Boden der neu durchdachten phänomenologischen Methode der realistischen Phänomenologie möglich. … Gerade aber die Person ist die eigentliche Realität. Das eigentlichste Seiende. (15 + 22)

Vom Bewusstsein unabhängige Wirklichkeit: (Ein wesentlicher Erfolg der Marx-Engel‘schen Philosophie und des Dialektischen Materialismus beruht) auf der Unabhängigkeit der objektiven Wirklichkeit vom Bewusstsein. … (ein hohes philosophisches und menschliches Interesse) der realen Existenz der Welt und der Personen, die in ihrer Geschichte existieren und nicht nur ums Leben und Überleben, sondern auch um eine Anerkennung ihrer Würde und Rechte ringen. (20+23))

Befreiung von der Entwürdigung des Menschen: Das viele edlen Menschen zu Herzen gehende und sie für den Kommunismus begeisternde Ethos der Befreiung der Menschen vor der Entwürdigung und Ausbeutung ist zweifellos ein Element, das historisch gesehen manche marxistisch geprägte russische Denker einer realistischen Philosophie und personalistischen Ethik verbindet… (21)

Beispiel Wende im Osten: Die polnische Solidarnosc-Bewegung stützt sich ganz auf diesen realistischen Personalismus, ohne welchen die Grosstat dieser Bewegung als Anfang vom Ende des Kommunismus undenkbar gewesen wäre. (27)

Eine Besinnung auf das erste Anliegen Husserls: Unter realistischer Phänomenologie verstehen wir … in erster Linie eine Philosophie, die in wirklich rigoroser Weise der Maxime Husserls folgt, zu den Sachen selbst zurückzukehren. … Sie ist … in erster Linie einfach echte Philosophie, insofern sich diese nicht in Gedankenspielen und Sophistik ergeht, welche die Wahrheit über die Sachen verfälscht, vorschnelle gewaltsame Konstruktionen und Systeme entwickelt oder einem Reduktionismus verfällt, sondern nichts als die Welt und die Dinge ansprechen will, wie sie wirklich sind und uns gegeben sind. (29)

Richte Dich auf die wirkliche Welt und versuche sie auszusprechen, denn das tat en die Alten auch, da sie lebten. (zit. Balduin Schwarz, 30)

(Zwei Wesensformen der unmittelbaren Erkenntnis:) (1) eine geistige rezeptive Wesenserschauung (von ähnlicher Unmittelbarkeit wie die Sinneswahrnehmung), die das Kant’sche dogma überwindet, dass unmittelbares Wahrnehmen nur im Reich der Sinne und der sinnlichen Anschauung vorkommt. Diese unmittelbare Erkenntnisform der kategorialen Anschauung (Wesensschau) hat allgemeine (‚kategoriale‘) und in sich notwendige Wesenheiten zum Gegenstand… (32)

(Es geht um das Erlernen) eines solchen rein geistigen Erschauens der Urphänomene… (34)

… eine Rückkehr zum ‚wahren Wesen der Dinge‘ …, das trotz aller kulturellen und sonstigen Verschiedenheiten seiner geschichtlichen Erscheinungsweisen überall dasselbe bleibt und zugleich von jeder historischen und kulturellen Erfahrung aus neu beleuchtet, wenn auch oft in ihr entstellt, wird. (35)

Keine subjektivistische Phänomenologie: (Die realistische Phänomenologie) unterscheidet sich … viel radikaler von den subjektivistischen Phänomenologien des 20 Jahrhunderts als von der grossen abendländischen Tradition der Philosophie der Antike. (37)

Einbussen bei Husserl: … alle Geltungsansprüche über die Sphäre menschlichen Bewusstseins hinaus auf die Wirklichkeit selber hin fallengelassen werden… (39)

(Dagegen:) die Dinge an sich, die Wesensgesetze, die sich auf die wirkliche und jede mögliche Welt und jede mögliche Welt erstrecken und auch auf das Sein selber, müssen intelligibel (für den Geist erfassbar) sein… (40)

(Der islamische Gelehrte des Mittelalters, Averroes unter die) Unvollständigkeit und Unvollkommenheit menschlicher Erkenntnis  von ihrer Subjektivität und Irrigkeit… (43)

… erstens wäre ein Gott, der nur Gegenstand des Bewusstseins wäre, gerade nicht Gott, er wäre gerade nicht das Seiende, über das hinaus nichts Grösseres sein und gedacht werden kann; zweitens ein solcher Erkenntnissubjektivismus sämtliche Grundlagen und Prinzipien, auf denen das ontologische Argument als das tiefste Argument der rein philosophischen Gotterkenntnis beruht zerstören; drittens setzen auch die Fundamente aller anderen Gottesbeweise die .. Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis voraus. (45)

Hinter Kant zurück: Wenn ich die notwendigen und informativen Urteile, die Kant synthetische Urteile a priori nennt, als Ergebnis einer ‚transzendentalen Synthesis’ oder einer Konstitution durch das Subjekt erkläre, dann begehe ich in der synthetischen apriorischen Erkenntnis, wie Nietzsche die Kantische Grundposition genial gekennzeichnet hat, höchstens ‚unwiderlegbare Irrtümer‘. Und dies wirkt sich notwendig auf alle Bereiche und Gegenstände der Philosophie inklusive des philosophischen Gottesbegriffs und der Religion im Sinne ihrer absoluten Auflösung aus. (46)

Wertschätzung Schelers: Die Tatsache, die Max Scheler für die erste und unmittelbarste Evidenz hält, ist die, dass es überhaupt und nicht vielmehr nichts (53)

(Die zweite Einsicht:) Das einzige Sein, das durch sich selber verstehbar ist, das einzige Sein, das einen rationalen Grund für sein Sein besitzt und daher voll intelligibel ist, das ist eben das ungeschaffene und ewige absolute ‚Sein schlechthin‘. (54)

Einbezug der Metaphysik: (Fazit:) Eine Rückkehr zu den ‚sich selbst gebenden Sachen‘ erweist sich auf diese Weise auch als fruchtbares methodisches Prinzip, ja als unentbehrliche und letztgültige Methode eines wahren metaphysischen Denkens, das sich nicht in sachfernen Spekulationen oder Systemkonstruktionen ergeht, sondern durch die Erforschung des Gegebenen und des Wirklichen die Metaphysik vollends zu jener höchsten ‚Wissenschaft‘ vom Sein selbst macht, die Philosophen seit Aristoteles suchen. (55)

Kulturübergreifende vorphilosophische Erkenntnis: Nur eine solche ‚realistische Phänomenologie‘ kann auch jene zentralen gemeinsamen Fundamente in ihrer Tiefe und Breite wiederentdecken, die einen gemeinsamen Boden zwischen allen Menschen zu bilden vermögen. … eine tatsächlich ‚reine‘ Vernunft, eine ratio, die zur geistigen Verständigung zwischen den Kulturen und Religionen, bzw. auch zwischen jenen Menschen, die nicht durch einen gemeinsamen Glauben (fides), sondern eben nur durch die allen Menschen gemeinsame Vernunnft, sofern sie sich wirklich dem Sein öffnet, verbunden sind… Dabei kann selbstredend die Philosophie den religiösen Glauben niemals ersetzen noch die religiösen Gegensätze überwinden… (57)

(Seifert sieht gar) Elemente eines geminsamen Bodens zwischen Theisten und Atheisten …, die auch vorphilosophischer Erkenntnis sind… (58)

Sein Prinzip ist die Liebe zur Wahrheit und damit geht es bedingungslos von der allgemeinmenschlichen, philosophisch relevanten und authentischen Erfahrung aus, in der sich uns nicht blosse empirische Fakten, sondern die intelligiblen Wesenheiten der Dinge erschliessen… (Es geht um) Urphänomene … die jedem Menschen bekannt und zugänglich sind … (58-59)