Buchbesprechung: Vom Verwaltungsstaat zum therapeutischen Staat

Paul Edward Gottfried zeichnet am Anfang seines Buches Multikulturalismus und die Politik der Schuld (engl. Original Multiculturalism and the Politics of Guilt. Toward a Secular Theocracy) mit spitzer Feder die Entwicklung der westlich-nachchristlichen Staaten Europas und der USA nach. Ich habe die Argumente aus dem Vorwort und der Einleitung zusammengefasst. Fett hervorgehoben sind Schlüsselbegriffe der Sozialingenieure des therapeutischen Staates.

Mittels einer „empirisch ausgerichteten Sozialforschung, die keinerlei Sensorium für die religiöse Dimension des Lebens hat“, versuche die administrative Klasse einen neuen Gesellschaftstyp durchzusetzen. Bis in die 1960er-Jahre sei die kollektive Planung der staatlichen Bürokraten vorausgegangen. Die Zustimmung zu diesem Vorhaben konnten dank zunehmenden staatlichen Vorsorgeleistungen erwirkt werden. Die nächste Stufe bestand darin, auf die „sozialen Sicherungssysteme und auf die Bildungsinstitutionen“ zuzugreifen, um „das Verhalten seiner Bürger gemäss eigener Vorstellungen zu beeinflussen“. Dieses Vorgehen habe die „Qualität staatlicher Verhaltenslenkung“.

Gottfried spricht von einem „Kult der Schuld“. Alle möglichen Verbrechen der Vergangenheit werden auf weisse Männer zurückgeführt (in den USA auf dem Hintergrund des Rassenkonflikts). Im propagierten Multikulturalismus würden bestimmte Scham- und Schuldgefühle der Bevölkerungsmehrheit für „Benachteiligte“ mobilisiert. Die politische Korrektheit werde mit bestimmten Verwaltungsmassnahmen durchgesetzt, die geistige Konformität herbeiführen soll. Es geht ihnen letztlich darum, eine bestimmte Vorstellung von moralisch Gutem durchzusetzen. Abweichendes Denken muss geahndet werden, um diese Art von Verhalten herbeizuführen.

In den westlichen, nachchristlichen Staaten herrsche eine von einer säkularisierten, von den wichtigsten Leitmedien gestützten Minderheit Richtung der korrekten Denk- und Lebenshaltung vor. Für die „Vorurteile“ der von dieser Norm abweichenden Bürger werden „sozialtherapeutische Heilungsprozesse“ eingeleitet. Rassistische, sexistische und homophobe Positionen gelte es zu eliminieren. Das Vermächtnis des Verwaltungsstaates müsse hierfür als heiliges Vermächtnis gehütet werden; es sei das Bollwerk gegen „Diskriminierung“. Umgekehrt sind offene Grenzen und Nationen mit universalen Werten erstrebenswert.

Im Interesse von „Fairness“, „Fürsorge“ und „Offenheit“ – allesamt ideologische aufgeladene Begriffen – werden hergebrachte soziale und familiäre Konventionen de-legitimiert und im Gegenzug „unkonventionelle und experimentelle Lebensweisen“ favorisiert. Regierungsstellen, Gerichte und das öffentliche Bildungswesen sind die wichtigsten Transporteure dieses therapeutischen Staates. Die neue Moral wird durch diese Institutionen in Gesetze und Verordnungen umgegossen. Beispiel: In Bayern wurden schon vor 20 Jahren die Kruzifixe aus den Schulzimmern entfernt, weil der „ständige Anblick eines gefolterten Mannes in Klassenzimmern von fragwürdigem Wert“ sei.

Wie reagierten die Kirchen auf die neuen Dogmen der politischen Korrektheit? „In Familienfragen haben sich die Kirchen auf genau entgegengesetzte Positionen zubewegt. Diese Umwandlungen moralischen und sozialen Einstellungen haben freilich weniger mit wissenschaftlichen Beweisführungen zu tun als vielmehr mit einer bestimmten Kultur, die durch den Verwaltungsstaat und seine Künder und Deuter in den Medien bzw. den Universitäten bestimmt wird.“ Sie vollzogen diesen Wandel nach und legitimierten ihn.

Die „therapeutische Tyrannei“ zeigt sich in einer immer grösseren Liste von Menschenrechten. Westliche Regierungen fokussieren ihre (finanziellen) Engagements auf diese therapeutischen Projekte. Ein „soziales Schuldgefühl“ soll erzeugt und die Suche nach „verborgenen Vorurteilen“ verstärkt werden. Das sei die (implizite) Mission vieler westlicher Politiker und Intellektueller. Diese therapeutische Politik wird jedoch nicht in allen Gesellschaften gleichermassen akzeptiert und ruft – zum Beispiel in Referenden – Widerstand und Ablehnung hervor.

Die politische Rechte reagiert mit Forderungen nach Abbau des Wohlfahrtsstaates und Ausweisung illegaler Ausländer. Die linksliberale Elite kaschiert ihr Streben nach Machterhalt und Ausbau der therapeutischen Tyrannei mit der „Sorge“ um das Wohlergehen von Kindern und anderen Diskriminierungsopfern. Experten für die geistige Gesundheit unterstützen die Unterbindung des unerwünschten Dissenses. Sie identifizieren Opfer, Benachteiligte wie auch Tätergruppen. Randgruppen müssen dringend re-sozialisiert werden.

Pikantes Detail: „Diese Politik gedeiht am besten, wo es einen deformierten Protestantismus gibt.“ Dieser habe den Boden dem individualistisch orientierten therapeutischen Apparat den Boden bereitet. „Der erniedrigte, sich selbst degradierende Sünder erlangt dadurch einen letzten Sinn, in dem er sich zum Kreuzritter einer endlosen globalen Mission aufschwingt.“