Buchbesprechung: Manifest für einen digitalen Humanismus

Jaron Lanier. Gadget: Warum die Zukunft uns noch braucht. Suhrkamp: München, 2012 (2. Auflage). 247 Seiten. 10 Euro.

(Der englische Titel ist viel aussagekräftiger: "You are not a Gadget. A Manifesto.")

Wir leben im frühen 21. Jahrhundert, und das heisst, vor allem Nichtpersonen werden diese Worte lesen – Automaten oder dumpfe Massen von Leuten, die nicht mehr als Individuen agieren. Man wird die Worte in atomisierte Suchmaschinen-Stichwörter zerlegen, irgendwo innerhalb industrieller Cloud-Computing-Zentren, die in entlegenen Weltgegenden und oft an geheimgehaltenen Orten liegen. Man wird sie millionenfach von Algorithmen kopieren lassen, die dazu dienen sollen, Werbund an Menschen irgendwo in der Welt zu schicken, die zufällig mit irgendeinem Fragment auf meine Aussagen reagiert haben. Schwärme schneller und nachlässiger Leser werden sie scannen, falsch interpretieren und neu zusammensetzen zu Wikis und automatisch aggregierten, kabellos verbreiteten Nachrichtenströmen. (Aus dem Vorwort)

Weshalb las ich dieses Buch?

Nun ja, ich bekam es von einer Arbeitskollegin geschenkt, die wusste, dass mich gesellschaftskritische Bücher interessieren. Das Feld „Computertechnologie“ mit der Frage nach dem Menschsein zu verbinden ist nicht nur eine spannende, sondern eine notwendige Kombination. Die virtuelle Welt erscheint mir zugegeben ungeheuerlich – und zwar vor und nach dem Lesen dieses Buches. Wir geben viele persönliche Daten von uns preis. Wir verbringen Stunden in ihr. Wir saugen Informationen auf, die wir – fast zufällig – in unserer inneren Vorstellungswelt zu einem Denk- und Handlungsrahmen verarbeiten und verdichten. Wie oft habe ich schon den Satz gehört: „Ich habe zum Thema gegoogelt.“ Dieser Ansage folgten in der Regel einige Informationshappen, die mit fragmentartigen Interpretationen verbunden wurden. Wenn diese Aussagen ein Thema betraf, in das ich mich eingelesen hatte, lief es mir oft kalt den Rücken hinunter. Vorurteile und Clichés wurden einfach übernommen! (Ich denke hier an einen „Input“ zum Calvinismus. Der Redner hatte keinen blassen Dunst, wer Calvin war, und verband diesen Begriff mit dem jahrhundertealten Vorurteil einer „protestantischen Arbeitsethik“. Schrecklich.)

Wer ist Jaron Lanier?

Lanier beschreibt sich im Buch als Technologie-Pionier. Der deutsche Verlag preist ihn als Erfinder des Begriffs der „virtuellen Realität“ an (siehe seine Beschreibung auf S. 238ff). Lanier verbindet seine jahrzehntelange Erfahrung als Technologie-Freak, Entwickler und Musiker mit dem Interesse an übergeordneten Fragen zur Technologie. Er lebte in all dieser Zeit im Zentrum der Computertechnologie, dem Silicon Valley. Als Insider kennt er die Entwicklergilde des Internets persönlich.

Um was geht es?

Lanier entfaltet in diesem Buch als „humanistischer Softie“ (247) ein Plädoyer „gegen computerzentriertes Denken“ (38). Der „kybernetische Totalitarismus“ behandle Dinge so, „als wären sie lebendig und hätten eigene Vorstellungen und Ziele“ (44). „Nach einem neuen Glaubensbekenntnis verwandeln wir Technologien uns selbst, den Planeten, unsere Spezies und überhaupt alles in Peripherigeräte, die an grosse Computing-Clouds angeschlossen sind. Es geht nicht mehr um uns, sondern um das grosse neue Computergebilde, das grösser ist als wir.“ (66) „Der eine Strang glaubt, die Computing-Cloud erreiche selbst ein übermenschliches Mass an Intelligenz, während der andere meint, die in der Cloud durch anonyme, fragmentarische Kontakte miteinander verbundenen ‚Vielen‘ bildeten die übermenschliche Entität, die eine besondere Art von Intelligenz erwerbe.“ (183)

Diese Ideologie entfalte Züge einer neuen Religion (50). Der antihumane Ansatz sei „einer der haltlosesten Ideen der Menschheitsgeschichte. Ein Computer existiert gar nicht, wenn kein Mensch ihn wahrnimmt.“ (42) Lanier wehrt sich gegen formalisierte, auswechselbare Anonymität und die unendliche Fragmentierung von Ideen (95), gerade angesichts der Reduktion der Person durch Informationssysteme. „Wenn wir Menschen veranlassen, nach unseren Modellen zu leben, reduzieren wir möglicherweise ihr Leben.“ (98)

Der Einfluss des evolutionären Weltbilds ist unverkennbar. Etwa hier, wenn er über die Ideen des Transhumanismus mutmasst: „Im Blick auf den allergrössten Massstab der Realität mag etwas Wahres an den mit der Singularität verbundenen Vorstellungen sein. Es mag zutreffen, dass auf umfassender kosmischer Ebene unvermeidlich immer höhere Bewusstseinsformen entstehen, bis das ganze Universum ein einziges Gehirn ist.“ (40)

11 technologiekritische Zitate aus dem Buch

  1. Das wichtigste an einer Technologie ist die Frage, wie sie die Menschen verändert.
  2. Man könnte die durch Twitter ermöglichten zwischenmenschlichen Kontakte auch in einer Weise fördern, die ohne die für Twitter typische Vergötterung des Fragments auskäme. (36)
  3. Wir Technologen lassen uns immer wieder von Ritualen faszinieren, die angeblich belegen, dass der Mensch veraltet ist. (53)
  4. Das Geheimnisvolle lässt sich umherschieben, doch wenn ein Rest an Geheimnisvollem bleibt, ist es am besten, das offen einzugestehen. (63)
  5. Wenn eine Kirche oder ein Staat solche Dinge tun, halten wir sie für autoritär, doch wenn Technologen die Übeltäter sind, gilt das als hip, frisch und innovativ. (70)
  6. Mich stört der Mangel an intellektueller Bescheidenheit in der Gemeinschaft der Computerwissenschaftler. Es macht uns Freude, in das technologische Design blosse – und dazu noch sehr vage – Hypothesen über die schwierigen und tiefsten Fragen der Wissenschaft einzubauen, als besässen wir bereits vollkommenes Wissen darüber. (73)
  7. In einer von ‚Crowdsourcing‘ geprägten Welt, in der man immer mehr Aufgaben in Schwarmsphären auslagert, werden die Bauern der Noosphäre eine trostlose Reise auf einem Bumerang unternehmen, der sich zwischen einer schrittweisen Verarmung innerhalb eines von Robotern angetriebenen Kapitalismus und einem gefährlich plötzlichen, verzweifelten Sozialismus bewegt. (113)
  8. Jede digitale Abstraktionsebene, so gut sie auch konstruiert sein mag, bringt ein gewisses Mass an Fehlerhaftigkeit und Undurchsichtigkeit mit sich. Keine Abstraktion entspricht vollkommen der Wirklichkeit. Durch eine Vielzahl solcher Ebenen entsteht ein eigenes System, das die tief darunterliegende Realität verdunkelt und unabhängig von ihr funktioniert. (132)
  9. Ich sehne mich danach, von neuen Generationen der digitalen Kultur schockiert und für veraltet erklärt zu werden, aber statt dessen erlebe ich nur qualvolle Wiederholungen und Langeweile. … Die Leere der Generation X verschwand nie, sondern wurde zur neuen Normalität. (161+170)
  10. Die Schwarmideologie raubt Musikern und anderen schöpferischen Menschen die Möglichkeit, Einfluss auf den Kontext zu nehmen, in dem ihre Leistungen wahrgenommen werden. (179)
  11. Junge Erwachsene können in ihrer inzwischen verlängerten Kindheit das Gefühl haben, endlich genug Aufmerksamkeit zu erhalten, und zwar durch soziale Netzwerke und Blogs. (233)

Was ich gelernt habe

Man kann keine nigel-nagel-neuen Programm schreiben. Lanier vergleicht dies mit der Londoner U-Bahn. Diese wurden Ende des 19. Jahrhunderts gebaut. Spurbreite, Höhe und Netz sind vorgegeben. Weiterentwicklungen müssen sich nach dem bestehenden System ausrichten. „Kleine Programme zu schreiben ist ein Vergnügen, die Pflege sehr grosser Programme dagegen immer eine elende Arbeit. Deshalb versetzt die digitale Technologie die Psyche des Programmierers in einen fast schizophrenen Zustand. Immer wieder verwechselt man reale mit idealen Computern. Technologen möchten, dass jedes Programm sich wie ein nagelneues, spielerisches, kleines Programm verhält, und sie setzen alle verfügbaren psychologischen Strategien ein, um nicht realistisch über Computer nachdenken zu müssen.“ (17)

Die hohe Standardisierung der Web-Kultur. „Statt Menschen als Quelle ihrer eigenen Kreativität zu behandeln, präsentieren die auf Zusammenstellung und Zusammenfassung ausgerichteten Sites anonymisierte Fragmente schöpferischer Leistungen, als wären sie vom Himmel gefallen oder aus dem Boden ausgegraben worden, ohne die wahren Quellen zu bezeichnen.“ (30/31)  Der digitale Schwarm wächst auf Kosten der Individualität. Gerade deshalb ist es wichtig, einen unverwechselbaren eigenen Stil behalten und pflegen. „Schaffen Sie Websites, die mehr über Ihre Persönlichkeit aussagen als die Schablonen, die auf Social-Networking-Sites zur Verfügung stehen. Posten Sie gelegentlich ein Video, dessen Herstellung Sie hundertmal mehr Zeit gekostet hat, als man zum Anschauen benötigt.“ (35) Ich überlege mir zudem, meine Identität nur so weit offen zu legen, als ich dies für notwendig halte – anstatt mich binär entweder für „Anonymität“ oder für „Offenlegung“ zu entscheiden.

Social-Media-Nutzer setzen sich selbst herab. Echte Freundschaft sollte uns mit der unerwarteten Andersartigkeit des anderen konfrontieren. Die Idee der Freundschaft in datenbankgefilterten sozialen Netzwerken ist nur eine reduzierte Version hiervon! (76)

Trolle sind anonyme Personen, die in einer Online-Umgebung schädlichen Unsinn treiben. „Überall entsteht eine Meute, und entweder ist man dafür oder dagegen. Wenn man sich der Meute anschliesst, übernimmt man auch den kollektiven, ritualisierten Hass.“ (88)

Mit dem Internet werde ich nichts verdienen. „Menschen, die ihr Leben der engagierten Herstellung kultureller Inhalte widmen, die sich über die Cloud verbreiten lassen …, genau diese Menschen sind die Verlierer.“ (122) Das Netz hat ganze Berufszweige, darunter die Musiker, Journalisten und Autoren, finanziell ruiniert. Lanier plädiert dafür, für den Informationsbezug zu bezahlen bzw. für alle Informationen, die abgerufen werden, eine Gebühr einzuziehen. „Eines schönen Tages könnte Ihr Internetprovider Ihnen das Angebot machen, dass Sie nicht mehr Ihre monatliche Zugangsgebühr bezahlen, sondern den neuen Gesellschaftsvertrag unterzeichnen, nach dem Sie für Bits bezahlen. … Falls Sie diesem Vertragswechsel zustimmen, haben Sie die Möglichkeit, auch mit Ihren eigenen Bits … Geld zu verdienen.“ (143) Das wäre ein bedeutend fairerer Ansatz. Natürlich weiss ich auch um die Idee, den Internetauftritt mit anderen kostenpflichtigen Dienstleistungen (Beratungen, Produkte) zu verbinden. „Wenn abgepackte Inhalte sich im Internetzeitalter immer schwerer verkaufen lassen, könnte die Wiederkehr des Live-Auftritts – in einem neuen technologischen Kontext – den Ausgangspunkt für erfolgreiche neue Geschäftsmodelle bilden.“ (145)

Wie beurteile ich das Buch im Rückblick?

„Nur zur Erinnerung: Ich bin nicht gegen das Internet.“ (100) Dies macht das Buch spannend. Es gibt keine platte Technologie-Schelte, sondern Lanier bietet eine gezielte Auseinandersetzung. Das Buch ist aus Artikeln heraus entstanden. Dies merkt man beim Lesen. Zwar sind die Inhalte geschickt angeordnet. Am Anfang der fünf Teile kündigt Lanier an, über was er sprechen wird und fasst zusammen, was er vorher aussagen wollte.  Es wäre angenehmer gewesen, der Autor hätte das Buch von Grund auf neu geschrieben.

Der niederländische Theologe und Denker Herman Bavinck beschrieb vor über 100 Jahren drei Grundbestandteile jeder Weltanschauung: Gott, Mensch und Kosmos. Gott ist aus dem Denkrahmen vieler Computertechnologen vor vornherein ausgeschlossen – auch bei Lanier (erkenntlich z. B. an seinen Aussagen zur Bibel, siehe Fussnote auf S. 67+68). Dann bleiben nur noch zwei Dimensionen als Gottesersatz: Kosmos oder Mensch. Lanier wendet sich gegen den Kosmos (Transhumanismus) und plädiert für den Menschen. „Der digitale Revolutionär, der diese Zeilen schreibt, glaubt auch heute noch an die meisten schönen und tiefen Ideale, die unsere Arbeit vor vielen Jahren beflügelten. Den Kern bildete ein unerschütterlicher Glaube an das Gute im Menschen. Wenn wir dem einzelnen grössere Chancen eröffnen, konnte das nach unserer Überzeugung mehr gute als schlechte Folgen haben.“ (27)

Zwar erkennt Lanier die Verkürzung der naturalistischen Denkweise und bezeichnet den Computationalismus folgerichtig als Glaubenssystem, in dem die „Welt als ein Rechenprozess verstanden werden kann, dessen Teilprozesse die Menschen sind“ (198). „Menschen so zu behandeln, als wären sie nur ein Stück Natur, ist keine sonderlich geniale Grundlage für die Entwicklung von Technologien, die menschliche Ziele verkörpern sollen“ (229). „Die Ideologie begünstigt ein verengtes Denken, das die Mysterien des Erlebens leugnet.“ (105) Dem Menschen wird zu wenig Wert beigemessen. Durch den Ausschluss Gottes bleibt es dem Autoren letztlich ebenfalls verwehrt, zuverlässige Aussagen über das Menschsein zu machen. Das wird beispielsweise an der Stelle deutlich, wo er argumentativ den Menschen von einer Bakterie abgrenzt und zum lapidaren Schluss kommt: „

Ehrlich gesteht Lanier ein: „‚Was ist eine Person?‘ Wenn ich das wüsste, könnte ich möglicherweise in einem Computer eine künstliche Person programmieren. Aber das kann ich nicht. Denn eine Person ist keine blosse Formel, sondern ein Suchen, ein Mysterium, ein  Glaubenssprung.“ (15)