Input: Augustins Gnadenlehre – unvereinbar mit der antiken Philosophie

Neugierig las ich in Kurt Flaschs "Kampflätze der Philosophie" das Kapitel "Natur oder Gnade: Augustinus von Hippo gegen Julian". Ich habe Flaschs Aristoteles-Biografie sehr geschätzt (Rezension). Auch sein Buch "Warum ich kein Christ bin" lag schon in meinen Händen. Auf meinem Nachttisch wartet ausserdem "Augustin – Einführung in sein Denken".

Flasch schreibt: "Augustin hatte seit 397 eine neue Interpretation des Christentums vorgelegt. Sie war unvereinbar mit dem Welt- und dem Vernunftbegriff der antiken Philosophie, von dem er herkam… Die neue Gnadentheorie … reduzierte den Anspruch der Vernunft; sie ruinierte mit Berufung auf Paulus das frühere, vernunftfreundliche Bild von Gott und menschlicher Selbstbestimmung. … Der fromme Laie Pelagius … hatte ein anderes Konzept von Christentum, und zwar aus monastisch-asketischen Motiven. Denn wenn die Gnade allein entschied, verlor die ethisch-religiöse Aufgabe der Selbstgestaltung ihren Sinn." (Augustinus allerdings sagte, dass Gott dem erlösten Menschen das gab, was er benötigte, um freudig nach seinem Willen zu streben.)

Die beiden Bischöfe Augustin und Julian, so Flasch weiter, "streiten um die Gnade und schlagen gnadenlos aufeinander ein. … so entfalteten sich in ihrem Streit zwei grundverschiedene Auffassungen der Welt, des Menschen und des Christentums. … Augustin dominierte die Folgezeit, aber Julian hatte bleibende Fragen aufgeworfen: Augustin hatte behauptet, Sünde und Schuld seien vererbbar. Er hatte die Übertragung der Erbsünde an den Geschlechtsverkehr gebunden und damit den Vorrang des jungfräulichen Lebens begründet. Er hatte die geschlechtliche Begierde als das Böse verteufelt…"

"Augustin erklärte die Begierde für schlecht, als Folge der Sünde und als Drang zu neuen Sünden; Julian hielt sie für die von Gott vorgesehene Antriebskraft aller Lebenwesen, der Menschen wie der Tiere. Wer sie verlästere, verleumde den Schöpfergott." Augustin unterwerfe die Sexualität "der Idealvorstellung technomorpher Körperbeherrschung: Im Paradies gab es … nicht die discordia von libido und Wille. Wäre dort die Zeit für den von Gott empfohlenen Geschlechtsverkehr gewesen, hätte er ohne unbesonnene Glut der Leidenschaft stattgefunden." (Ich denke hierzu, dass Augustin in Teilen tatsächlich irrte – Sexualität inkl. der leiblichen Freude ist ein Gottesgeschenk; richtig lag er darin, dass der Sündenfall auch die Sexualität betrifft.)

Augustin stürzte sich "auf das einzige Detail der biblischen Erzählung, das für seine Theorie verwertbar schien, auf die Scham, die Feigenblätter und die von Gott vor der Vertreibung geschneiderten Felle." (Tatsächlich ein sehr wichtiges Detail der Sündenfallsgeschichte.) "Augustin benützte unseren ahnungslosen Ahnen Adam als Projektionstypus für sein ideal lückenloser Körperbeherrschung." (Nein, hier ging es um einen heilsgeschichtlichen Wendepunkt; Augustin argumentierte zu Recht mit Römer 5,12.)

Nach Julian "gehört der Tod von Natur zum menschlichen Leben; er ist nicht die Strafe für die Untat des fernen Ahnen." (Kein biblischer Gedanke.) Darüber hinaus ereifert sich Flasch: "Alle Menschen, sofern sie nicht von einer Jungfrau geboren waren, waren eine verlorene, eine verurteilte Masse, eine massa dammnata. Dieser Schuldkollektivismus bedeutete: Jedes Neugeborene, das vor der Taufe starb, sollte auf ewig verloren sein. Darin sah Julian eine Re-Archaisierung, eine lebens- und vernunftfeindliche Neuerung in der Auslegung des Christentums, der er widerstehen wollte, auch wenn er darüber sein Bischofsamt und seine Heimat verlor." (Auch in der Sache mit der Taufe irrte Augustin; dass er jedoch sämtliche Menschen unter Gottes Zorn sah, ist biblisch begründet.)

Nach Falsch entschied ihr Ausgang "gegen Vernunftpositionen, deren Wiedergewinnung den Schweiss und auch das Blut der folgenden Jahrhunderte gekostet hat". Er kündigt an, dass er "die älteren Theorien in ihrem belegten Kontext" beliesse. Der säkulare Standpunkt drückt dennoch durch. Flasch steht auf der Seite Julians. Tatsächlich hat der Disput zwischen Augustin und Julian eine grundsätzliche Trennung zwischen zwei Weltbildern zutage gebracht: Zwischen einem autonomen, sich für eine schlechte Tat entscheidenden, und einem grundsätzlich verderbten, in Bezug auf das Heil völlig der Gnade Gottes ausgelieferten Menschen.