Stationen meines Aufwachens (2): Die Herangehensweise an die Bibel steht auch zur Debatte

Durch die beiden Aufsätze von Ron Kubsch, Müssen wir das 'sola scriptura'-Prinzip aufgeben? (2005), und Brauchen wir eine weitherzige Theologie? (2009), wurde mir bewusst, dass Grundfragen der Auslegung (Hermeneutik) ebenfalls zur Debatte stehen.

Im ersteren schreibt Kubsch über die Verschiebung der Problematik die Bibel angemessen auszulegen (S. 9):

Das Problem liegt nicht (nur) beim Exegeten, sondern ist in nuce ein Problem der Bibel. Wir können die Schrift nicht eindeutig und nachvollziehbar auslegen, weil es ihr an der dafür nötigen Klarheit und Einheitlichkeit fehlt.

Zum Schriftverständnis des Post-Evangelikalen Brian MacLaren zitiert Kubsch:

Die Schrift sei von Gott inspiriert, aber nicht wörtlich eingegeben (179). Gott und dutzende Menschen und Kulturen hätten sie geschaffen (180).

Allmählich begann mir zu dämmern, dass das Trio Der Schrei der Wildgänse – Die Hütte – Am Ende siegt die Liebe einer Systematik entspringt. Es geht um nichts weniger als eine zeitgemässe Dekonstruktion der Grundlagen, auf dem der Evangelikalismus, wie ich ihn seit Kindsbeinen kannte, aufbaute. Aus meiner Sicht hat dieser drei "Beine": Der zentrale Stellenwert von Jesus' stellvertretendem Opfer in Raum und Zeit; die zentrale Autorität der Bibel für Lehre und Leben; der Aufruf, die Gute Botschaft überall weiter zu tragen.

Erst mit der Zeit wurde mein Ohr offen für eine dezidiert andere Herangehensweise an die Bibel. Eigentlich beginnt sie schon viel früher: Überall dort, wo der Prediger nicht mehr über einen Bibeltext predigt, sondern von einzelnen Aussagen ausgehend seine eigene Hauptbotschaft und seine Erlebnisse vermittelt, gehen die Hörer der kraftvollen Botschaft verlustig. Sie werden zudem über die Jahre einem genauen Hinhören auf die Heilige Schrift entwöhnt und gleichzeitig den Dogmen des Säkularismus schutzlos ausgeliefert. Ich erinnere mich an eine Aussage, die ich vor 20 Jahren gehört habe: "Lies deine Bibel nur, wenn es dir Spass macht. Befreie dich von dem Stress." Ich kenne viele Menschen, die sich davon befreit haben. Ein fataler Rat.

In den letzten Jahren habe ich mehrere Predigten gehalten, u. a. zum Vorgehen von Paulus in Römer 4 unter dem Titel Weil ER gesprochen hat, und auch mehrere Aufsätze erfasst. In Die Bibel – ein Zugang zu Gott unter vielen? schrieb ich:

Der Zugang zu Gott durch die Heilige Schrift ist erstrangig und unverzichtbar und deshalb regelmäßig zu pflegen. Das ist keine Bibliolatrie (Götzendienst an der Bibel), wie manchmal behauptet wird. Wenn das Bibelstudium eine geistliche Übung unter anderen ebenbürtigen Übungen ist, wird das im Alltag zu einer Vernachlässigung des Wortes Gottes führen. …

  1. Gottes Wort und seine Handlungen gehören untrennbar zusammen.
  2. Gottes Wort ist so eng mit seiner Person verbunden, dass es als eine seiner Eigenschaften dargestellt wird.
  3. Die Wahrheit ist Maßstab für Gottes Wort. Es ist vertrauenswürdig, weil Gott vertrauenswürdig ist.