Zitat der Woche: Wenn die Sexualität aus dem Schutzraum der Tabus entlassen ist

Günter Rohrmoser geht in seinen Vorlesungen “Kulturrevolution in Deutschland: Philosophische Interpretationen der geistigen Situation unserer Zeit” (S. 89-90; 131-133) den Grundgedanken der geistigen Väter der 68er-Bewegung nach. Es braucht etwas Musse und Konzentration, um solche Passagen zu durchdringen. Es lohnt sich! Rohrmoser analyisiert die sexuelle Revolution (Hervorhebungen von mir):

Wenn Ehe und Familie für den Bestand oder die Zerstörung einer Kultur die zentrale Bedeutung haben, die ihnen Horkheimer zuspricht, dann müsste auch eine sexuelle Revolution, d. h. eine sexuelle Emanzipation von allen Formen, ohne die Ehe und Familie nicht definierbar sind, ein extremes Symptom für das Ende einer Kultur sein. … Auch Freud war dieser Auffassung, wenn er die Auflösung der sexuellen Scham mit dem Schwachsinn identifizierte. Von Kant bis Freud waren sich alle grossen emanzipatorischen, bürgerlichen Denker einig, dass ein unlösbarer Zusammenhang zwischen der Kultur und der sexuellen Moral in einer Gesellschaft besteht. Die Schwierigkeit, vor der unsere Gesellschaft an diesem Punkt steht, ist durch nichts eindrücklicher zu verdeutlichen als durch die völlige Unfähigkeit, überhaupt ein einziges rationales zustimmungsfähiges Argument gegen totale sexuelle Beliebigkeit zu formulieren. … Alle Kulturen der Menschheit haben den Bereich der Sexualität nach der Logik von Tabus diszipliniert, kanalisiert und kontrolliert. Wenn diese Tabus aufgelöst werden, können sie durch rationale Konstruktionen nicht wiederhergestellt werden. Die Frage ist, ob es im Bereich der Sexualität, wenn er aus dem Schutzraum der Tabus entlassen ist, noch ein Mittel gibt, etwas daran zu ändern. Auf dem Boden der Programmatik der ungehemmten und weitgehend ungehinderten natürlichen Bedürfnisbefriedigung des Menschen wird man kein wirklich rational durchschlagendes Argument dafür finden, warum das Inzestverbot eingehalten werden soll, das zentrale Tabu der Hochkulturen mit Ausnahme der ägyptischen, und eine entscheidende Kulturerrungenschaft. Die Kulturforschung ist sich darüber einig, dass genau mit diesem Akt Kultur beginnt. Es scheint mir nicht mehr möglich zu sein, den Unterschied zwischen normaler und perverser  Befriedigung von Sexualität rational zu begründen. Es ist das Problem unserer Gesellschaft, dass sich die Forderungen nach einer sexuellen Revolution mit dieser Massivität haben durchsetzen können.

Später beschreibt Rohrmoser die Rolle von Marcuse als Zudiener dieses sexuellen Dammbruchs:

(Marcuse muss konsequent sagen), dass an die Stelle von Wissenschaft und Technik, die er selbst als die konstituierenden Prinzipien des repressiven Realitätsverständnisses ermittelt hat, eine neue Realität treten solle, die nicht mehr an der Beherrschung interessiert ist, sondern an Befriedigung. Auch im Umgang des Menschen mit der Natur soll daher ein pflegerisches, entbindendes, die Potenzialitäten der Natur positiv aufnehmendes Verhältnis treten. … Marcuse wollte eine nicht repressive Form des Sublimierens entdecken, die in der Lage sein sollte, die, gerade auch libidinöse, Unterdrückung zu überwinden, ohne zu regredieren. … (Er ging davon aus, dass) wenn sich also eine Erotisierung des gesamten Erfahrungsfeldes des Menschen vollzieht, damit die Dominanz der genitalen Sexualität wie von selbst zurückgehe. … Die Freisetzung der direkten, unmittelbaren sexuellen Befriedigung hat Marcuse als Rückfall von Kultur in Barbarei nicht gewollt und immer gesucht, sich davon abzugrenzen.

Die fatale Folge des Versprechens unmittelbarer sexueller Befriedigung war aber das beste Mittel – das revolutionäre Potenzial zu entschärfen. Jede wirkliche Veränderung erstirbt damit!

Die Dialektik in dieser sexuellen Revolution besteht darin, dass sich eine heranwachsende Jugend nicht leichter mobilisieren lässt, als wenn man ihr unmittelbare sexuelle Erfüllung verspricht. Indem man dies tut, zerstört man das Subjekt einer möglichen Veränderung der Zustände. Eine massiv auf die sexuelle Befriedigung orientierte Jugend wandert ab. Sie holt keiner mehr zurück, um noch irgendeine Gesellschaft, und sei es die des Sozialismus, zu begründen. … die Freigabe der Sexualität durch Permissivität ist die beste Methode einer Gesellschaft, um das revolutionäre Potenzial zu entschärfen und damit die Abweichenden und Revoltierenden wieder zu integrieren. Der zweite, wie ich meine tiefere Grund ist, dass die etablierte bürgerliche Erwachsenengesellschaft in der Bundesrepublik die Kinder um ihren Grad sexueller Freizügigkeit beneidet und sich dann selbst auf die von den Kindern herangetriebenen Normen hinbewegt hat. … Wenn ein Frustrierter sieht, was ihm im Laufe seines Lebens entgangen ist, so kann er es nicht mehr revidieren. Dies ist eine beinahe tragische Situation.

Ich habe von Anfang an gegen die sexuelle Revolution genau aus diesem Grund gekämpft, weil ich sah, dass, wenn dies propagiert und in den Schulen eingeführt würde, jede wirkliche Veränderung der Gesellschaft, die man im Sinn gehabt haben mag, gestorben ist. Mit einer sexuell befreiten Jugend wird man nichts mehr anfangen können.