Kolumne: Sein wie die anderen – zur Langzeitschädigung fromm Sozialisierter

In diesem Beitrag thematisiere ich ein «Muster», das sich im theologisch konservativen «Milieu» eher entfalten kann als in einem kulturell aufgeschlossenen. In einem solchen Familien- und Gemeindeumfeld prägt sich von früh auf ein Muster der Rückzugsmentalität aus. Ohne Worte wird die Botschaft vermittelt: «Wir sind die Guten, draussen leben die Bösen.»

Diese (teilweise) Abschottung entwickelt jedoch seltsame Widersprüche. Denn seit jedermann und jedefrau ein Smartphone auf sich trägt, hat ein medialer Dammbruch stattgefunden. Nicht nur Youtube-Clips, sondern auch und vor allem pornografische Inhalte können ohne Aufheben konsumiert werden. Es braucht dazu nicht mehr den Gang zum Kiosk. Man kann es sich in einem ruhigen Moment zuführen.

Dieser mediale Dauereinfluss entfaltet eine «schizophrene» Wirkung. Äusserlichkeiten und die innere Landschaft driften wie kaum zuvor auseinander. Es braucht nur noch die äusserliche Umstellung durch Markenkleider, Schmuck, Frisur und einige andere Gadgets (z. B. Statussymbole wie eine bestimmte Freizeit- und Urlaubsgestaltung) für die komplette Gleichschaltung.

Dahinter steckt der Wunsch, so zu sein wie die anderen. Es handelt sich um eine Versklavung an die Vorstellungen und Mentalitäten von anderen. Die Bibel nennt das Motiv «Menschenfurcht» – der Drang, sich den (vermeintlichen) Erwartungen anderer anzupassen. Dabei wird ein kräftezehrender Eifer an den Tag gelegt. In bestimmten Verhaltensweisen muss die Anpassung durch Übertreffen sich selbst (und anscheinend anderen) bewiesen werden.

Was ich über die Jahre beobachtet habe, ist eine ungesunde Langzeitwirkung dieses Imitations-Verhaltens. Nicht nur «passt» es nie ganz. Mit der Zeit geht das Verhalten der Übertreibung in die «DNA» über. Gedanken, Einstellungen und Verhaltensweisen sind abgespeichert und zu Gewohnheiten geworden. Schmunzeln löst es bei mir aus, wenn ich nach Jahren oder gar Jahrzehnten ein «konserviertes» Verhalten früherer Jahrzehnte entdecke.

Da gibt es tatsächlich Mittvierziger wie ich, die sich nach wie vor wie Heranwachsende benehmen wollen. Die noch immer den gleichen Vorlieben frönen wie vor 25 Jahren. Der Gedanke blitzt durch den Kopf: «Etwas peinlich.» Also genau das, was sie nie werden wollten, ist eingetreten. Die Kultur des Protests hat sich verfestigt und ist zu einem unzeitgemässen Relikt geworden.

In der Zeit der «Midlife-Crisis» – einem typischen Phänomen der westlichen Konsumgesellschaft – beginnt die Schere zwischen Illusion und Wirklichkeit so auseinander zu gehen, dass sich der Spagat nicht mehr überbrücken lässt. Die einen suchen die Entspannung in Brüchen. Sie trennen sich vom Ehepartner und beginnen nochmals eine neue Ausbildung. Etwas abgemildert legen sie sich einen neuen Look zu und passen ihr Freizeitverhalten an.

Ich nenne diese Reaktion «Götterwechsel». Die beruflichen und privaten Schwerpunkte werden verlagert. Die Navigation bzw. der innere Zustand bleiben, der Frust steigt. Ich bin Gott dankbar, dass ich schon als Kind weder in das Schema meiner sozialen Bezugsgruppe noch in den Raster der Schule passte. Dies führte im besten Alter – mit ca. 16 Jahren – zum willentlichen Entschluss, mit Gottes Hilfe ein eigenes Profil zu entwickeln. Dies hielt ich – mit Ab und Abs – durch Studium und Beruf aufrecht.

Es war kein einfacher Weg. Er hat mich vielen Frommen entfremdet und dafür zu zahlreichen neuen Freundschaften geführt. Die zweite Lebenshälfte spielt mir zu. Nicht mehr der berufliche oder familiäre Erfolg stehen im Vordergrund, sondern die Sinnstiftung. Unsere frommen Subkulturen betreiben dagegen Symptombekämpfung: Noch mehr Wellness, noch mehr Fitness. Der Markt hat sich längst auf diese Altersgruppe ausgerichtet. Zeit für einen Paradigmenwechsel, meine ich. Zuerst braucht es eine neue Ausrichtung der Kompassnadel. Das Modell des «christlichen Hedonismus» (mehr dazu in meiner Arbeit zu John Piper) könnte für Aussteiger eine wichtige Hilfe darstellen.