Input: Dawkins Argument dekonstruiert

Ein Freund hat mich auf die umfassende Sammlung von fast 900 Fragen (Question of the Week, seit 2007) aus der Feder des Apologeten William Lane Craig hingewiesen. In der ersten beantworteten Fragen geht er auf die Gesamtargumentation des Atheisten Richard Dawkins in dessen Buch “Gotteswahn” ein, die lautet:

  1. Eine der größten Herausforderungen für den menschlichen Intellekt war es, zu erklären, wie die komplexe, unwahrscheinliche Erscheinung von Design im Universum zustande kommt.
  2. Die natürliche Versuchung besteht darin, das Erscheinungsbild des Designs auf das tatsächliche Design selbst zurückzuführen.
  3. Diese Versuchung ist falsch, weil die Designer-Hypothese sofort das größere Problem aufwirft, wer den Designer entworfen hat.
  4. Die beste und überzeugendste Erklärung ist die Darwinsche Evolution durch natürliche Selektion.
  5. Wir haben keine gleichwertige Erklärung für die Physik.
  6. Wir sollten die Hoffnung nicht aufgeben, dass es in der Physik eine bessere Erklärung gibt, die so mächtig ist wie der Darwinismus in der Biologie.

Aus seiner Antwort:

  • Wenn wir diese sechs Aussagen als Prämissen eines Arguments nehmen, das die Schlussfolgerung “Deshalb gibt es Gott mit ziemlicher Sicherheit nicht” impliziert, dann ist das Argument offensichtlich ungültig.
  • Eine wohlwollendere Interpretation wäre, diese sechs Aussagen nicht als Prämissen, sondern als zusammenfassende Aussagen von sechs Schritten in Dawkins’ kumulativem Argument für seine Schlussfolgerung, dass Gott nicht existiert, zu betrachten.
  • Daraus folgt lediglich, dass wir aus dem Auftreten von Design im Universum nicht auf die Existenz Gottes schließen sollten. Aber diese Schlussfolgerung ist durchaus mit der Existenz Gottes und sogar mit unserem berechtigten Glauben an die Existenz Gottes vereinbar.
  • Zu 3. Um eine Erklärung als die beste zu erkennen, muss man keine Erklärung der Erklärung haben. Eine solche Forderung würde zu einem unendlichen Regress von Erklärungen führen, so dass nichts mehr erklärt werden könnte und die Wissenschaft zerstört würde.
  • Dawkins ist der Meinung, dass im Falle eines göttlichen Designers des Universums der Designer genauso komplex ist wie das zu erklärende Ding, so dass kein Erklärungsfortschritt erzielt wird. Dieser Einwand wirft alle möglichen Fragen über die Rolle der Einfachheit bei der Beurteilung konkurrierender Erklärungen auf.

Input: Zur Irrtumslosigkeit der Bibel

Von D. A. Carson liegt der hilfreiche Aufsatz “Aktuelle Angriffe auf die Irrtumslosigkeit der Bibel in deutscher Übersetzung vor. Ein Ausschnitt:

Mitte des 20. Jahrhunderts jedoch wurde die Unfehlbarkeit in einigen Kreisen nur auf den Wahrheitsgehalt der geistlichen Botschaft der Schrift bezogen, während man vermeintliche historische und andere faktische Fehler darin zu sehen glaubte. Als Gegenreaktion bestanden viele Christen auf der Irrtumslosigkeit der Schrift, nicht weil sie ihrem Verständnis von der Schrift einen neuen Aspekt hinzufügten, sondern weil sie an der historischen Position festhielten, dass die Bibel die Wahrheit zu jedem Thema sagt, das sie anspricht. …

„Irrtumslosigkeit“ (darf) nicht mit „Präzision“ verwechselt werden. Viele lehnen den Begriff „Irrtumslosigkeit“ mit der Begründung ab, er klinge pedantisch, zu präzise, zu sehr auf das Kleinste konzentriert. Diejenigen aber, die ihn mit historischem Bewusstsein verwenden, wissen, dass er nicht einen bestimmten Präzisionsgrad erfordert, sondern die Wahrhaftigkeit unterstreicht, unabhängig vom Grad der Präzision oder Präzisionslosigkeit (die weitgehend vom Kontext bestimmt wird).

Der Anspruch auf Irrtumslosigkeit steht nicht im Widerspruch zum legitimen Gebrauch von Metaphern, Übertreibungen, Parabeln, Redewendungen und verschiedenen literarischen Gattungen. Mit anderen Worten: Die Verneinung der Irrtumslosigkeit mit der Begründung, sie sei zu buchstabengetreu, zeugt von Unkenntnis dessen, was Irrtumslosigkeit ist – ja, dessen, was Wahrheit ist und den zahlreichen und unterschiedlichen Arten und Weisen, wie sie vermittelt werden kann.

Input: Weltanschauung als korrigierbare Landkarte

Nathaniel Gray Sutanto schreibt im hilfreichen Begleitartikel zu Herman Bavincks Text “Christliche Weltanschauung”:

(Wir Editoren haben in der Einleitung) den Aufbau einer christlichen Weltanschauung anhand der Analogie der Landkarte dargestellt und nicht anhand der üblichen Analogie der Brille. Während letztere Analogie oft vermittelt, dass eine christliche Weltanschauung ziemlich schnell “aufgesetzt” werden kann, verdeutlicht der Bau einer Landkarte, dass der Aufbau einer Weltanschauung schrittweise und induktive Arbeit erfordert, die dann revidiert werden kann, wenn neue Informationen auftauchen. Der Aufbau einer christlichen Weltanschauung hat zwar trinitarische Parameter und Prinzipien, aber Organisation und Aufbau stehen für empirischen Daten offen, die eine Korrektur und Erweiterung der Karten versprechen, mit denen wir die Welt erforschen. Es besteht also eine wechselseitige Beziehung zwischen den Karten, die wir verwenden, und der untersuchten Welt – wenn wir die Ergebnisse der Wissenschaften erforschen, konfigurieren wir unsere Karten neu, aber wenn wir diese Karten neu erkunden, begeben wir uns auf neues Terrain, wobei wir uns fest von ihnen leiten lassen.

… Die Philosophie geht der Zusammenfassung dieser Errungenschaften nach und verfolgt dann, der Weisheit folgend, die Einheit hinter den Wissenschaften bis hin zu den ersten Prinzipien darin. Eine Weltanschauung baut also auf dem “letzten Grund aller Dinge” auf, nachdem sie entdeckt hat, dass “die Welt im Denken ruht und dass Ideen alle Dinge beherrschen”. Die empirischen Phänomene, denen wir im täglichen Leben und in der Wissenschaft – einschließlich der vielen akademischen Disziplinen – begegnen, führen uns tatsächlich zu unsichtbaren, ja göttlichen Wirklichkeiten.

Es ist eindrücklich, wie präzise Bavinck 1904 die kommende Tragödie des Nationalsozialismus voraussah:

Bavincks Argumentation in Bezug auf die Ethik ist besonders stark, vor allem wenn man bedenkt, dass er sie in den Jahren vor zwei Weltkriegen schrieb. Er ringt einmal mehr mit der These, dass die Ethik – das Gute und der Wert – nicht in einer göttlichen Quelle außerhalb von uns begründet ist. Die Hauptalternative, die im neunzehnten Jahrhundert in Erwägung gezogen wurde, besteht also darin, zu argumentieren, dass Ethik und Normen in der Geschichte begründet sind. Bavinck entgegnet, dass wir in dem Moment, in dem Ethik und Wert nicht in transzendenten Normen, sondern in der immanenten Geschichte begründet sind, die Frage beantworten müssen: Welche Geschichte? Oder, was vielleicht noch wichtiger ist, wessen Geschichte?

Bavinck argumentiert, dass die Ablehnung transzendenter Normen bedeutet, dass wir unsere eigenen Präferenzen verabsolutieren und damit auch die Präferenzen unserer eigenen Volksgruppe in der Gegenwart. Die Geschichte unserer Kultur, Nation und unseres Volkes wird zum absoluten Maßstab, nach dem wir zwischen anderen Geschichten, Kulturen und Volksgruppen urteilen. Dies geschieht genau deshalb, weil wir, nachdem wir die göttlichen Ideen abgeschafft haben, unweigerlich anderswo nach Stabilität suchen werden: “Weil der Mensch aber immer irgendeine Form von Stabilität braucht, entsteht schnell die ernste und keineswegs eingebildete Gefahr, dass er durch diese einseitige geschichtliche Betrachtungsweise zu einem falschen Nationalismus, zu einem engstirnigen Chauvinismus, zu einem Fanatismus über Rasse und Instinkt verleitet wird”

Auf erschreckende Weise führt Bavinck dies auf die zu seiner Zeit aufkommenden deutschen nationalistischen Philosophien zurück. Als er 1904 schrieb, ahnte Bavinck in erschreckender Weise die Tragödien voraus, die nur wenige Jahrzehnte später eintreten würden.

Vortrag: Predigt – zu Gottes Ehre und zur Gesundheit der Gemeinde

Mein Freund Jochen Klautke hielt seine Antrittsvorlesung über das Predigtverständnis Heinrich Bullingers (1504-1575).

Er erwähnt im ersten Teil fünf Aspekte seiner Bedeutung:

1. Er stand mit seinem ausgleichenden Wesen mit unterschiedlichen Strömungen der Reformation in Kontakt.

2. Er stand mit tausenden von Briefen mit anderen Pfarrern, Fürsten und Würdenträgern ebenso wie mit Lehrern und Menschen aus dem Volk in Kontakt.

3. Er diente über 44 Jahre an einem Wirkungsort und sah sich stets in erster Linie als Hirte in Zürich.

4. Er erreichte mit seinen Schriften, insbesondere den Dekaden, eine vielfache Auflage wie andere Reformatoren und weite Verbreitung.

5. In all seinen mündlichen und schriftlichen Bemühungen zielte er stets auf das Leben der Menschen.

Er fasst die Kennzeichen einer Predigt nach Bullinger in drei Aspekten zusammen (Min 25-35):

  • Sie wird von Gottes Dienern gehalten.
  • Sie ist Wort Gottes.
  • Sie verfolgt Gottes Ziel.

Bullinger wandte sich zudem gegen die Überbetonung des inneren Wortes (Täufer) und gegen die Überbetonung des Predigtamtes (Katholische Kirche; Min 28-31).

Für die Wirkung auf die Zuhörer nennt Bullinger als wichtig (Min 38ff): a) Redekunst, b) Übung, c) breites Wissen, d) Anwendung.

Gleichzeitig wendet er sich gegen a) Angeber, b) Meisterrhetoriker, c) Bibelzitierer, d) Philosophen.

In der Anwendung für das 21. Jahrhundert wendet sich Klautke gegen das Argument, dass die Predigt sich in Zeiten der Reels und von TikTok abgeschafft habe:

Dass die Predigt zentraler Weg Gottes ist, um seine Gemeinde zu bauen, steht heute immer wieder in der Kritik. In Zeiten von kurzen tiktok-Videos und Reels ist eine biblische Predigt der kulturelle Gegenentwurf schlechthin. Die Predigt ist nämlich viel zu wenig visuell, viel zu lang und sie ist viel zu komplex. Sie erklärt nämlich ein oft nicht einfach zu verstehendes Buch. So sagen manche, dass aufgrund der heutigen Bildkultur verbunden mit der kurzen Aufnahmespanne das Ende der Predigt eingeläutet worden sein. In früheren Zeiten wären die Leute einfach gewöhnt gewesen zuzuhören (…) Allerdings: Zu Zeiten Bullingers gab es natürlich noch keine Videos, aber es gab sehr wohl Bilder. Bevor die Reformation kam, wurden die Menschen hauptsächlich durch Bilder geprägt. Die Kirchen waren voll davon. Die meisten Menschen konnten nicht lesen; deswegen wurden ihnen die rudimentären biblischen Wahrheiten, die sie kannten, durch Bilder vermittelt. Dann kam die Reformation. Sie schaffte die Bilder ab. Bibeln wurden in die Landessprache übersetzt; Schulen wurden gegründet, damit die Menschen sie auch lesen können. Predigten wurden ins Zentrum der Gottesdienste gestellt.

Input: Die subjektive Seite der göttlichen Offenbarung an den Menschen

Im bereits neulich zitierten Podcast “Bavincks Philosophy of Revelation” (Minuten 36-41) fassen Nathaniel Gray Sutanto und Cory Brock das Spezifikum in Bavincks Lehre der Offenbarung hin:

Es weist auf den Einfluss der Romantik auf das Denken Bavincks hin, dass wenn er von der allgemeinen Offenbarung spricht, er einerseits vom klassischen reformierten Verständnis ausgeht; nämlich dass Gott sich mit seiner moralischen Ordnung in unserem Gewissen  offenbart.  Zudem offenbart er sich durch die äußere Ordnung, die uns insbesondere auf Gottes Grösse hinweist.

Er spricht zudem von der subjektiven  Seite der Offenbarung, die den Abdruck von Gottes Offenbarung in unserem Bewusstsein hinterlässt. Dieser Eindruck auf das Bewusstsein wird eher gefühlt wird als kognitiv gedacht. Fühlen ist gemäss der in seiner Schrift “Grundlagen der Psychologie” entworfenen Darstellung eine Funktion des Denkens, keine separate Fakultät. 

Das Selbst ist also etwas, zu dem wir nicht durch den Denkprozess kommen noch durch irgendeine empirische Entdeckung. Es ist vielmehr etwas, das uns im Bereich des Gefühls, als eine Art Vorahnung gegeben bzw. offenbart ist.

Ich habe Cory Brocks Dissertation zu Schleiermachers Einfluss in Bavincks Werk übrigens ausführlich rezensiert.

Input: Bavincks Begriff einer Philosophie der Offenbarung

In einem profunden Podcast “Bavincks Philosophy of Revelation” (Minuten 24-28) erläutern Nathaniel Gray Sutanto und Cory Brock den Begriff der Philosophie der Offenbarung (= Titel von Bavincks wichtiger Publikation von 1908, neu übersetzt und kommentiert). Ich habe den Auszug paraphrasiert:

Bavinck sieht die Aufgabe der Philosophie Philosophie als eine universelle Wissenschaft im Sinne der Philosophie an, die Grund, Ziele und Zwecke aller anderen akademischen Disziplinen erforscht. Alle anderen akademischen Disziplinen benötigen die Philosophie deswegen genauso wie die Theologie.

Wenn Bavinck also aus der Sicht der Philosophie den Begriff der Offenbarung beleuchtet, dann zeichnet er nicht nur nach, wie die Offenbarung in das menschliche Bewusstsein eindringt, sondern vielmehr die Art und Weise, wie Offenbarung sich auf die anderen akademischen Disziplinen auswirkt. 

Während eine Theologie der Offenbarung die Untersuchung der Offenbarung in deren dogmatischen Zügen darstellt, also was die Schrift über Offenbarung darlegt und wie diese in Bezug auf ihre Quellen dasteht, nämlich den Dreieinigen Gott, stellt die Philosophie der Offenbarung stellt eine horizontale Frage: Welche Bedeutung weist diese für die anderen Disziplinen auf?

Wenn wir also über die Philosophie der Offenbarung nachdenken, handelt es sich nicht um die Offenbarung in einem allgemeinen religiösen Sinne, die wir allein mit der Vernunft erforscht haben. Vielmehr geht es um die externalisierte Seite dieser Offenbarung, die horizontale Blickrichtung, ihre Auswirkung auf die Wissenschaften.

Er sieht den Nutzen dieser Philosophie der Offenbarung darin, unsere Erforschung der Wissenschaften zu disziplinieren. Wenn sich jemand dieser Aufgabe widmet, durchdenkt er Antworten der Offenbarung aus Sicht der biblischen Weltanschauung. Diese ergeben sich letztlich aus der Einheit der Schöpfung und der Menschheit als Produkt von Gottes Schöpferkraft. So soll das Denken diszipliniert werden, um Problemstellungen anzugehen, die in der Philosophiegeschichte stets ungelöst blieben. Egal wie fragmentiert die Realität erscheinen mag, sie findet ihre Kohärenz, ihren Fluchtpunkt in der göttlichen Offenbarung.

Input: Die verlorene Kunst des Debattierens

Von meinem Bloggerfreund Sergej wurde ich auf eine Debatte zwischen Rabbi Itkin und dem Theologen Roger Liebi hingewiesen.

Zunächst ist das Format sehr aufschlussreich. Ausgangslage ist eine klar formulierte Frage. Die Debatte besteht aus sechs Runden.

Teil I: 20 Minuten für die Darlegung der Position, mit/ohne visuelle Unterstützung
Teil II: 15 Minuten für die Widerlegung der anderen Position
Teil III: 10 Minuten für die Widerlegung der Widerlegung
Teil IV: Fragen der Zuschauer (3 Fragen für jede Seite; 2 Min für die Beantwortung, 1 Min für ein Feedback auf die Beantwortung)
Teil V: 15 Minuten für ein Kreuzverhör
Teil VI: 5 Minuten für ein Abschlussplädoyer

Dies habe ich formell und rhetorisch daraus gelernt:

  • Beginne mit dem Hauptgedanken.
  • Gliedere deine Argumentation.
  • Wer weniger lange hat, sollte keine Zeit “ausfüllen”; lieber weniger als mehr sagen
  • Es kann phasenweise chaotisch und verzettelt sein; ein Eingeständnis dessen entspannt.
  • Es hilft, eine Einordnung der Texstelle sowie des Arguments vorzunehmen (“diese Stelle gehört zu den anspruchsvollsten Abschnitten des Alten Testaments”)
  • Es zeigt sich, wie wichtig ein klares Abstützen auf tragende Textstellen ist.
  • Kennezeichne die Eng- und Wendestellen (“Abzweigungen”).
  • Es hilft Denker der Gegenposition genau zu studieren und anzuführen.
  • Fasse das Wichtigste am Schluss zusammen.

Input: Pluralität innerhalb der Kirchen

Nathaniel Gray Sutanto im Artikel “The Theology of Ethnic-Specific Churches” (Podcast):

Kuyper und Bavinck argumentierten interessanterweise, dass die Kirche eine Pluralität in sich trägt. Die Pluralität der Kirche wird dadurch bezeugt, dass die Kirche in jeder Kultur, zu jeder Zeit und in jedem Raum ihren eigenen Charakter haben wird. Wir sollten daher nicht auf die Vergangenheit schauen, als gäbe es eine Art goldenes Zeitalter für die Gegenwart. Und wir sollten nicht auf die Vergangenheit schauen und sagen, dass die Kirche wie eine bestimmte Kultur aussehen muss, auch wenn es Genf ist und wir begrüssen, was Calvin mit Genf gemacht hatte, auch wenn es das historische Israel ist. Sie argumentierten dagegen und sagten, dass die Kirche in jedem Zeitalter und zu jeder Zeit ihren eigenen, unverwechselbaren Charakter haben sollte.
Das wird deutlich, als Bavinck zum Beispiel nach Amerika kam. Er argumentierte, dass Amerika keine rosige Zukunft für den Calvinismus vor sich hätte. Amerika sei viel zu kapitalistisch, zu willensstark, zu pragmatisch, als dass es sich die Vision der Vorherbestimmung des Calvinismus zu eigen machen könne. Und doch, meinte er, sei das in Ordnung. Wir sollten nicht erwarten, dass das amerikanische Christentum wie das niederländisch-reformierte Christentum aussehe. Er erklärte sogar, dass der Calvinismus nicht die einzige Wahrheit sei, was eine sehr starke, kontroverse Aussage darstellt.
Das entspricht wirklich seinen Ansichten, noch bevor er nach Amerika kam. 1894 schrieb er einen Artikel mit dem Titel “The Future of Calvinism”, in dem er argumentierte, dass wir, wenn wir wirklich an die Freiheit der Kirchen glaubten, wir eine Vielfalt von Bekenntnissen erwarten sollten, dass die Kultur jeder Nation ein eigenes Bekenntnis hervorbringe.
Er will damit nicht ausdrücken, dass wir widersprüchliche Bekenntnisse haben sollten; doch es gibt einen gewissen Charakter, und deshalb könnte und sollte jede Kirche und jede Kirchenkultur ganz anders aussehen, und wir sollten nicht eine Kultur einer anderen Kultur aufzwingen. Er macht hier einen sehr deutlichen Unterschied zwischen dem Evangelium und der Kultur.

Input: Organische Anthropologie – die gemeinschaftliche Dimension der Imago Dei

Nathaniel Gray Sutanto zur theologischen Bedeutung eines gemeinschaftlichen (korporativen) Verständnisses der Imago Dei (hier):

Erstens: Da kein menschliches Individuum das Ebenbild Gottes vollständig zum Ausdruck bringen kann, haben menschliche Berufung und Verantwortung notwendigerweise eine gemeinsame Dimension. Im Gegensatz zu dem Individualismus, der unsere heutige Welt durchdringt – wie er in unserer Besessenheit von sozialen Medien und Superhelden-Filmen zum Ausdruck kommt – wird Gott nicht in dem Helden gesehen, der aus dem Nichts auftaucht, sondern in den Schöpfungen von Liebesbanden. Dies ergibt Sinn in Bezug auf eine Reihe von Kernaussagen in Bavincks Reformierter Ethik, wo er argumentiert, dass die Egozentrik die Wurzel der Sünde ist, die den atomistischen Individualismus verewigt, und das Heilmittel des erlösenden Wirkens des Geistes, das uns durch die Erneuerung der Bande der Liebe zueinander zur organischen Einheit zurückführt (RE I, 110, 248).

Herman Bavincks missiologischer Neffe Johan Bavinck (1895-1964), argumentiert zudem dahin, dass die Sünde oft vergessen lasse, dass wir bei den Sünden anderer eine entscheidende Rolle spielen … Eine organische Anthropologie bedeutet, die gemeinschaftlichen Dimensionen der Sünde ernst zu nehmen:

“In unserem Sündigen stehen wir nicht isoliert voneinander: Fast jede Sünde, die wir begehen, geschieht in Gemeinschaft.Zahlreiche Sünden sind von Natur aus so beschaffen. Die Sünden des Ehebruchs, des Streits und des Zankes zum Beispiel sind gemeinschaftlich begründet. Aber auch die Sünden, die individuell begangen werden, geschehen im größeren Kontext der Gesellschaft, und die Gesellschaft als solche ist der Auslöser für diese. Das ist der Grund, warum wir, wenn ein Verbrechen begangen wird, kaum eine Person vollständig für die Tat verantwortlich machen können. Unsere Rechtssysteme, die in der Regel einen Täter isoliert bestrafen, sind immer mehr oder weniger einseitig, weil sie die Rolle der Eltern, Lehrer oder Freunde dieser Person nicht berücksichtigen. Jede Sünde hat ein gewisses Maß an Gemeinschaftlichkeit, da sie ihre Wurzeln in der Gesellschaft hat. Wir sündigen nicht als Einzelne, sondern als Mitglieder unseres größeren sozialen Umfelds.” – (Johan Bavinck, Between the Beginning and the End, 60).

Zweitens und letztens sollten wir die Verschiedenheit innerhalb der Kirche feiern, denn hier werden die Menschen erlöst, damit sie die Herrlichkeit des dreieinigen Gottes widerspiegeln. Die Erlösung in Christus schafft keine Uniformität, sondern Vielfalt in der Einheit und Einheit in der Vielfalt, und zu dieser Vielfalt gehören die verschiedenen Sprachen, Völker und Nationen, die die himmlische Stadt bevölkern.

Dort wird jede Volksgruppe etwas von der Herrlichkeit Gottes und von dem, was wir als Ebenbilder sind, zum Ausdruck bringen: “Stämme, Völker und Nationen werden ihren eigenen besonderen Beitrag zur Bereicherung des Lebens im neuen Jerusalem leisten… Die große Vielfalt, die es in allen möglichen Formen gibt, wird in der Ewigkeit nicht zerstört, sondern von allem Sündhaften gereinigt und für die Gemeinschaft mit Gott und untereinander dienstbar gemacht.” (Bavinck, RD 4.727). Unsere Aufgabe hier ist es, diesen letzten Tag zu bezeugen, an dem “die Menschheit in ihrer Gesamtheit – als ein vollständiger Organismus, zusammengefasst unter einem einzigen Haupt, ausgebreitet über die ganze Erde, als Prophet, der die Wahrheit Gottes verkündet, als Priester, der sich Gott weiht, als Gebieter, der die Erde und die ganze Schöpfung beherrscht – allein sie ist das vollendete Bild, das aussagekräftigste und auffälligste Ebenbild Gottes.” (Bavinck, RD 2.576).

Was wir hier tun, sollte widerspiegeln, was wir sein werden. Wenn die Eschatologie die Ethik prägt, tun wir gut daran, diese Aufforderung ernst zu nehmen, Bande der Liebe in einer Weise zu knüpfen, die unsere geschaffene und erlöste Vielfalt würdigt.

Podcast: Modelle der Imago Dei und ihre Relevanz für unser Leben

Nathaniel Gray Sutanto fasst in rund 10 Minuten drei systematisch-theologische Modelle der Imago Dei zusammen (hier):

Wenn man sich in der zeitgenössischen theologischen Landschaft umschaut, was es bedeutet, nach dem Ebenbild Gottes geschaffen zu sein, so lässt sich das typischerweise in drei Modelle unterteilen.

Das erste ist das so genannte strukturelle Modell, das besagt, dass der Begriff “nach dem Ebenbild Gottes geschaffen” in dem Sinne zu verstehen ist, dass wir eine bestimmte metaphysische Struktur haben. Was auch immer wir sonst noch darüber sagen wollen, ob wir nun den Substanzdualismus oder die so genannte holomorphe Theorie, bei der die Seele die Form des Körpers darstellt, vertreten oder die Seele als getrennt vom Körper ansehen, was die substanzdualistische Ansicht ist. Wir sind nach dem Ebenbild Gottes geschaffen, weil wir ontologisch so beschaffen sind.

Das zweite kann als Modell der Berufung bezeichnet werden. Wir sind nach dem Ebenbild Gottes geschaffen, weil wir eine besondere Berufung haben, nicht wie die Tiere, die Bäume, ja nicht einmal die Engel. Wir haben die Berufung, fruchtbar zu sein und uns zu vermehren. Als Ergebnis dieser Vermehrung werden Repräsentanten Gottes auf die Erde hinausgehen, Kultur schaffen und den Namen Gottes repräsentieren.

Das dritte kann als relationales Modell bezeichnet werden. Wir widerspiegeln in gewisser Weise die Trinität in unseren Beziehungen oder bilden Christus in unserer Beziehung zu ihm ab.

Was wir in der reformierten Tradition sehen ist die Weigerung, irgendeinen dieser Aspekte voneinander zu isolieren. Wenn man sich Francis Turretin, Peter van Maastricht und schließlich Bavinck ansieht, dann würden diese Autoren zusammen mit anderen in der reformierten Tradition argumentieren, dass das Ebenbild Gottes in der Tat einfach unsere metaphysische Beschaffenheit bedeuten könnte, die wir zum Beispiel als verkörperte Seele sind. Gerade weil wir im dem Ebenbild Gottes geschaffen sind, haben wir eine Verantwortung für die Herrschaft, weil wir die einzigen sind, die über die Fähigkeiten verfügen, diese Dinge zu tun. Wir haben eine Beziehung zu Gott und deshalb eine Verpflichtung, diese Beziehung zu Gott aufrechtzuerhalten, so dass wir unseren Platz in der Welt immer missverstehen würden, wenn wir Gott und seinem Wort nicht gehorchen würden.

Anschliessend nennt Sutanto drei Implikationen der Ebenbildlichkeit Gottes.

Die Frage nach der Bedeutung

Einerseits wird uns gesagt, dass wir bedeutungslose Geschöpfe, Dinge, sogar Atome, die sich auf Staub reduzieren lassen, und dass es nichts Bedeutendes an uns gibt. Es gibt nichts, was uns von dem Tisch vor mir unterscheidet, denn wir sind alle aus demselben Material gemacht.

Gleichzeitig sagt uns unsere Kultur, dass wir unseren eigenen Sinn schaffen müssen, dass wir eine gewisse Verantwortung haben. In dem Moment, in dem wir diese Verantwortung verletzen, können wir entlassen werden, oder wir können verlangen, dass diesem oder jenem Leben Gerechtigkeit widerfährt.

Die biblische Diagnonalisierung dieser beiden Gegensätze bedeutet: Wir sind Staub, und deshalb sind wir demütig und abhängig. Weil wir nach Gottes Ebenbild geschaffen sind, haben wir eine uns innewohnende Würde, wir haben Sinn. So finden wir nicht mehr dieses Hin und Her zwischen Bedeutungslosigkeit auf der einen Seite und der fast vergöttlichenden Verantwortung, uns selbst einen Sinn zu geben.

Objektivität darüber, wer wir sind: Geist-leibliche Wesen

Die zweite Sache, die wir über das Bild Gottes sagen können, ist, dass es Objektivität in Bezug darauf gibt, wer oder was wir sind, und dass das, was wir tun, für Gott von Bedeutung ist. Unser Körper ist nicht etwas, das für uns zweitrangig ist. Wir sind keine Seelen im Gefängnis des Körpers. Der Körper ist kein bloßes Instrument unseres autonomen Willens. Unser Körper ist Teil unserer Identität. So hat der Körper eine Autorität. Wir sehen das zum Beispiel an der Art und Weise, wie wir essen und schlafen müssen. Wenn wir nicht auf unseren Körper hören, werden wir buchstäblich sterben. Unser Körper übt also eine Art Druck auf uns aus, einen autoritativen Druck. Deshalb sollten wir besser auf ihn hören. Unser Körper hat Funktionen, die nicht willkürlich sind, und es sind Funktionen, die wir anerkennen müssen, anstatt sie selbst zu schaffen.

Unausweichlich religiöse Wesen

Die dritte Sache, die wir über die Schöpfung nach dem Ebenbild Gottes sagen können, ist: Wir sind unausweichlich religiöse Wesen. Wenn wir den ausdrücklichen Glauben an den christlichen Gott wegnehmen, wird unser Sinn für das Göttliche, unser Sinn für das, was wir als Ebenbilder sind, immer noch auf andere Weise auftauchen. Wenn wir Gott nicht verehren, werden wir etwas anderes verehren, wir verehren Geschöpfe, die nach dem Bild des Göttlichen geschaffen wurden. So ist es nicht verwunderlich, dass mit dem Niedergang des Christentums kein Rückgang des religiösen Glaubens zu beobachten ist, sondern die Beständigkeit des religiösen Glaubens in anderen Formen weiter besteht.