Predigt: Was muss ich tun, um dazu zu gehören?

David Jany erklärt in seiner Predigt «Jesus ist mehr als Religion» treffend das Wesen von Religiosität (ab Minute 20): Es geht darum ein menschliches System einzuhalten. Es wird mittels der Frage konkretisiert: Was muss ich tun um dazu zu gehören? In der aktuellen Leitreligion des Säkularismus beispielsweise: Wie muss ich mich ernähren – kleiden – reisen – sportlich betätigen?

Jany nennt als Merkmale einer solchen Religiosität:

  • Es wird laufend detaillierter.
  • Es schränkt immer mehr ein.
  • Es gibt immer jemand, der es noch strenger macht.
  • Es führt zu einer Dünnhäutigkeit («schnell genervt»). 
  • Es führt zur Härte gegen andere und gegen sich selbst.
  • Es hält den Betreffenden ständig im Modus der Bewertung.

Anschauliches «frommes» Beispiel:

Bibellesen ist wichtig.
Christen müssen täglich in der Bibel lesen.
Christen müssen täglich ein Kapitel lesen.
Christen müssen täglich ein Kapitel aus dem Alten und aus dem Neuen Testament lesen.
Christen lesen auch am Abend.
Christen hören die Hörbibel durch den Tag.
Christen lesen die Bibel x-mal durch (zweistellig, dreistellig).

Jany hält die Balance, indem er das scheinbare Gegenteil als zweiten Irrweg enttarnt:

Einige sagen sich: «Was machen die es sich kompliziert mit Religion – ich lebe freiheitlich!» Man fühlt sich in dieser Haltung ganz tolerant. Doch halt: In diesem Moment ist jemand felsenfest von der absoluten Wahrheit überzeugt, dass es keine absolute Wahrheit gebe. Also intolerant.

In meinem Vortrag «Was ist das Evangelium?» (2019) bin ich ausführlich auf die Gesetzlichkeit (Moralismus) und die Gesetzlosigkeit (Relativismus) als Feinde des Evangeliums eingegangen.

Input: 8 Kriterien zur Evaluation einer Weltsicht

Douglas Groothuis über die Kriterien zur Evaluation einer Weltanschauung (in Christian Apologetics, S. 52ff):

Der erste Test für jede Weltanschauung ist, dass sie erklärt, was sie erklären soll. Eine Weltanschauung hat einen breiten Bezugsrahmen; sie versucht, die Grundzüge der Wirklichkeit umfassend zu erfassen. Wenn sie uns keine Erklärung für wichtige Aspekte des Lebens gibt – Fragen nach dem Sinn, der Moral und der Sterblichkeit -, ist etwas nicht in Ordnung, denn diese Fragen sind immerwährend und relevant.

Das zweite Kriterium ist die innere logische Kohärenz. Die wesentlichen oder konstitutiven Elemente einer Weltanschauung müssen widerspruchsfrei miteinander übereinstimmen.

Das dritte Kriterium, nach dem Weltanschauungen bewertet werden sollten, ist die Kohärenz. Dieser Test ist mit der Kohärenz verwandt, geht aber darüber hinaus und besagt, dass die wesentlichen Aussagen einer Weltanschauung eng miteinander verknüpft und begrifflich verbunden sind.

Das vierte Kriterium ist die sachliche Angemessenheit. Dies betrifft die historische und empirische Dimension des Lebens. Eine Weltanschauung kann in sich konsistent sein, aber in Bezug auf die Realität, die sie zu beschreiben versucht, inkonsistent.

Die existenzielle Lebensfähigkeit ist das fünfte Kriterium. Es handelt sich um eine Art faktische Angemessenheit, die sich jedoch auf die innere Realität des Menschen konzentriert. Nur weil jemand behauptet, dass eine bestimmte Weltanschauung “für mich funktioniert”, heißt das nicht, dass diese Weltanschauung existenziell lebensfähig ist. Die Behauptung, eine Weltanschauung sei existentiell lebensfähig, bedeutet, dass sie ohne philosophische Heuchelei bejaht werden kann.

Mit der Lebensqualität verwandt, aber positiver formuliert, ist das sechste Kriterium, die intellektuelle und kulturelle Fruchtbarkeit. Wenn eine Weltanschauung (1) wirklich erklärend, (2) in sich konsistent, (3) kohärent, (4) sachlich angemessen und (5) existentiell lebensfähig ist, dann sollte sie kulturelle und intellektuelle Entdeckungen, Kreativität und Produktivität anregen. Wenn eine Weltanschauung der Realität entspricht, sollte sie ihre Anhänger motivieren, diese Realität mit Zuversicht und Energie anzunehmen und zu meistern.

Siebtens: Die radikale Ad-hoc-Anpassung ist ein wichtiges negatives Kriterium für die Prüfung von Weltanschauungen. Wenn eine Weltanschauung mit potenziell entkräftenden Gegenbeweisen konfrontiert wird, kann ein Anhänger seine Kernaussagen anpassen, um die Gegenbeweise zu berücksichtigen.

Achtens: Wenn alle Dinge gleich sind, sind einfachere Erklärungen unnötig komplexen vorzuziehen.

Zusammengefasst (S. 72):

Wenn eine Weltanschauung nicht erklären kann, was sie zu erklären verspricht, wenn sie in ihren eigenen Begriffen keinen Sinn ergibt (innere Konsistenz), wenn sie nicht beschreiben kann, was es gibt (objektive und innere Realität), wenn sie dem Leben keinen verständlichen Sinn gibt oder wenn sie intellektuell und kulturell nicht produktiv ist, dann ist sie von der Betrachtung ausgeschlossen. Ich werde argumentieren, dass das Christentum diese Tests besser besteht als alle seine Konkurrenten.

Hinweis: Das Standardwerk “Christian Apologetics” gibt es in der erweiterten Auflage mit Hörbuch.

Buchhinweis: Aristoteles über die Freundschaft

Beim mehrmaligen Anhören der Nikomachischen Ethik sind besonders die Kapitel 8 und 9 zur Freundschaft eine wahre Fundgrube. Der katholische Philosoph Joseph Koterski, dessen Vorlesungen zum Werk von Aristoteles sowie zum Naturgesetz ich schätze und wieder wiederholt angehört habe, fasst die drei Formen der Freundschaft zusammen (S. 37f):

Eine Freundschaft des Vergnügens (pleasure) ist eine Freundschaft, die darauf beruht, dass bestimmte Menschen einfach die Gesellschaft des anderen genießen, wobei beide Parteien wirklich ihr eigenes Vergnügen suchen.

1. Da das von beiden Seiten angestrebte Gut das Vergnügen und der Freude ist, neigen Beziehungen dieser Art dazu, zu verblassen und abzubrechen; wenn nämlich das, was Freude bereitet hat, aufhört, Freude zu verursachen.

2. Freundschaften junger Menschen sind oft von dieser Art, und diese Art von Beziehung kann unter Menschen mit lasterhaftem Charakter ebenso leicht bestehen wie unter tugendhaften Menschen.

Eine Freundschaft der Nützlichkeit beruht auf dem gegenseitigen Vorteil, den die Parteien in Bezug auf den anderen haben.

1. Die Freundlichkeit, die diese Art von Beziehung kennzeichnet, beruht weitgehend auf dem Nutzen, der sich aus der gegenseitigen Freundlichkeit ergibt, zum Beispiel am Arbeitsplatz.

2. Auch hier gibt es wenig, was die Beziehung aufrecht erhält, wenn die gegenseitige Nützlichkeit aufhört.

3. Menschen in Führungspositionen tun gut daran zu erkennen, ob eine freundliche Person in der einen oder anderen dieser Beziehungen steht.

Eine Freundschaft der Vortrefflichkeit (auch Charakterfreundschaft genannt) hängt davon ab, dass tugendhafte Menschen sich gegenseitig Gutes wünschen.

1. Auch wenn solche Beziehungen in der Regel angenehm oder nützlich sind, sind diese Faktoren nebensächlich, denn diese Menschen wünschen ihren Freunden um ihrer willen Gutes.

2. Eine solche Freundschaft entsteht aus dem Charakter; daher müssen die beteiligten Personen bereits tugendhaft sein oder zumindest einer von ihnen, und der andere von einem echten Tugendpotential geprägt sein, das der erste herauszuarbeiten versucht.

3. Während die Zahl der Freundschaften, die dem Vergnügen oder dem Nutzen dienen beträchtlich sein mag, ist hingegen die Zahl der Freundschaften der Vortrefflichkeit wahrscheinlich gering, weil selten. Solche Beziehungen erfordern viel Zeit und Vertrautheit.

Hier sind 10 Zitate aus Kapitel 8:

Vom Wert der Freundschaft: (Die Freundschaft ist) fürs Leben das Notwendigste. Ohne Freundschaft möchte niemand leben, hätte er auch alle anderen Güter. (8,1)

Freundschaft in der Jugend und im Alter: Den Jünglingen erwächst aus der Freundschaft Bewahrung vor Fehltritten, den Greisen die wünschenswerte Pflege und Ersatz für das, was ihre Schwäche selbst nicht mehr vermag, dem starken Manne Förderung zu jeder guten Tat. (8,1)

Der Nutzen der Freundschaft für ein Staatsgefüge: Freundschaft ist es auch, die die Staaten erhält und den Gesetzgebern mehr am Herzen liegt als die Gerechtigkeit. Denn die Eintracht ist offenbar mit ihr verwandt, und auf diese ist das Hauptaugenmerk der Staatslenker gerichtet. (8,1)

Die Gastfreundschaft zählt Aristoteles zu den Freundschaften der Nützlichkeit. (8,3) Meine Ergänzung: Wiedergeborene Menschen können andere um ihrer selbst willen einladen.

Sicherheit vor Verleumdung/Kränkung: Auch gegen Verleumdung ist nur die Freundschaft der Guten gefeit. Denn man glaubt einem nicht leicht in betreff eines Mannes, den man selbst in langer Zeit bewährt gefunden hat. In dieser Freundschaft herrscht auch das Vertrauen und stete Enthaltung von Kränkungen sowie alles andere, was zur wahren Freundschaft erfordert wird. (8,5)

Entstehung von Freundschaften und Lebensalter: Unter mürrischen Personen aber und ältlichen Leuten werden Freundschaften um so seltener geschlossen, je launenhafter sie sind, und je weniger ihnen der Umgang mit anderen Freude macht. Denn freundliches Wesen und Geselligkeit scheinen der Freundschaft vorzugsweise eigen zu sein und ihre Entstehung zu bewirken. (8,7)

Wenige Charakterfreundschaften: Freund im Sinne der vollkommenen Freundschaft kann man nicht mit vielen sein, so wenig man gleichzeitig in viele verliebt sein kann. Denn solche Freundschaft hat etwas vom Übermaße an sich, und das Übermaß der Neigung ist seiner Natur nach auf einen gerichtet. Auch geschieht es nicht leicht, dass viele gleichzeitig dem nämlichen in hohem Grade gefallen, und auch das trifft sich wohl nicht leicht, dass viele tugendhaft sind. Auch muß man vom Charakter des anderen in langem Umgang Erfahrung getan haben, was sehr schwer ist. (8,7)

Freundschaften der Überlegenheit mit unterschiedlichen Beiträgen beider Seiten: So leisten denn hier beide Teile einander nicht das Gleiche, und man darf das auch nicht verlangen; wenn vielmehr die Kinder den Eltern erweisen was den Erzeugern gebührt, und die Eltern ihren Söhnen was denen, die sie erzeugt haben, zukommt, dann wird die Freundschaft unter solchen beständig und von rechter Art sein. In allen diesen auf einer Überlegenheit beruhenden Freundschaften muß die Liebe eine verhältnismäßige sein, muß der Bessere, Nützlichere und sonst Überlegene mehr geliebt werden als lieben. (8,8)

Freundschaften und unterschiedlicher Besitz-/Wissensstand: Unter Personen von entgegengesetzten Verhältnissen und Eigenschaften scheint besonders die auf dem Nutzen beruhende Freundschaft vorzukommen, wie die Freundschaft zwischen dem Reichen und dem Armen, dem Unwissenden und dem Unterrichteten. Denn jeder begehrt nach dem, was ihm mangelt, und gibt dafür anderes als Gegengabe. (8,10)

Freundschaften Eltern/Kinder und Geschwister: Die Eltern lieben nun ihre Kinder gleichsam als sich selbst – denn die von ihnen abstammen, sind durch die Trennung so zu sagen ihr anderes Selbst –, und die Kinder ihre Eltern, als von ihnen geboren; die Geschwister lieben sich unter einander, weil sie von denselben Eltern geboren sind. … Zu ihrer Freundschaft hilft auch viel, dass sie zusammen aufwachsen und gleichaltrig sind; denn »gleich und gleich« heißt es, und gleiche Sitten machen treue Gefährten, daher auch die brüderliche Freundschaft der unter Jugendgenossen ähnlich ist. (8,14)

Weiterlesen: C. S. Lewis zu Männerfreundschaften

Aufsatz: Acht Botschaften der Vorderen Propheten

Sie sind etwas rarer geworden, meine Artikel. Aus einer Serie über die Vorderen Propheten 2023

… entstand der Aufsatz mit 8 Botschaften für das 21. Jahrhundert.

Paulus benennt die verheißene Wirkung des Alten Testaments beim heutigen Leser: Sie dient unserer Belehrung (Röm 15,4), was sich in Ausdauer und Trost auswirkt. Zudem wimmeln die Berichte von Vorbildern (griech. typoi, also beispielhaften Abbildern), die uns zur Warnung dienen sollen (1Kor 10,6.10). Wenn ich meine eigenen täglichen Lesegewohnheiten kritisch hinterfrage, sehe ich die Bibelbücher, die auf die fünf Mosebücher folgen (die Geschichtsbücher, die auch als „Vordere Propheten“ bezeichnet werden), als Aneinanderreihung von Geschichten, an die ich mich gewöhnt habe. Allenfalls vermag ich ihnen etwas abzugewinnen, wenn ich mit einer „psychologisierten“ Brille auf die Texte sehe und nach Ratschlägen zur Lebensoptimierung fische.

Wie sieht eine zuversichtlich-realistische Perspektive eines Lesers aus, der Gottes Wort den Vorrang einräumen will? Sie kombiniert Zuversicht und Realitätssinn: Zuversicht durch die unverbrüchlichen Zusagen Gottes (vgl. Hebr 6,18), Realitätssinn durch das häufige Straucheln unsererseits (vgl. Jak 3,2).

Aufsatz: Umweltschutz als säkularisierte Ersatzreligion

Vor einiger Zeit habe ich aus Didier Ernes Vorlesung zu biblischen Weltsicht von Umweltschutz 50 Thesen zusammengetragen. Die Zeitschrift Bekennende Kirche hat eine dreiteilige Serie zum Thema veröffentlicht.

Zusammenfassend lässt sich die Herausforderung der Klimadebatte in zwei Aspekte unterteilen. Die Metaphysik der Naturwissenschaften trennt das Wirken Gottes völlig vom physikalischen Weltgeschehen und beschränkt seinen Einfluss auf die Herzen oder lässt ihn nur sehr vage erahnen. Die Erwartung übernatürlicher Hilfe angesichts des Klimawandels durch das direkte Wirken Gottes und der Ruf zur Umkehr als Bedingung dafür ist auch in unseren Kreisen eher selten, wenn überhaupt vorhanden. Das darf nicht sein, denn die Trennung von Gott und Welt widerspricht der Heiligen Schrift. Als Christenheit brauchen wir eine neue Metaphysik, die beide Seiten der geschaffenen Wirklichkeit einschließt: Die Gesetzmäßigkeit der Schöpfung und das Wirken Gottes, der die Missetaten der Menschen nicht ungestraft lässt und die Gerechten bewahrt. Nicht oberflächliche fromme Floskeln von der Vorsehung Gottes, sondern ein durchdachtes biblisches Weltbild, in dem der dreieinige Gott eine aktive Rolle spielt, ist die Lösung.

Input: Theologisch kritisch bewerten und den gewaltfreien Einsatz gegen Rassismus würdigen

Ron Kubsch beschreibt treffend eine differenzierte Haltung gegenüber der Ikone des gewaltlosen Widerstands, Martin Luther King Jr.

Man darf Martin Luther King Jr. theologisch kritisch bewerten und dennoch seinen gewaltfreien Einsatz gegen den Rassismus würdigen. Ich kann Mahatma Gandhis gewaltfreie Strategie im Kampf gegen das Kastenwesen schätzen, ohne zu behaupten, er wäre dabei christlicher Friedensethiker gewesen. Die große Schwäche von Giboneys Artikel ist, dass seiner Meinung nach das politische Handeln von Personen ihre theologische Positionen markiert. Korrelationen, die es zwischen diesen zwei Bereichen geben mag und geben darf, entscheiden nicht über die Qualität theologischer Urteilsfähigkeit.

Buchhinweis: Spekulationen über den Tod

Der Philosoph Phaidon von Elis, nach dem der Dialog benannt ist, tritt in der Rahmenhandlung als Erzähler auf. Er ist wie Platon ein Schüler des Sokrates. Dieser ist vor kurzem in Athen wegen Asebie (Religionsfrevel) und Verführung der Jugend zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Phaidon schildert als Augenzeuge einer Gruppe von Zuhörern die Ereignisse des Todestags, den der Verurteilte im Gefängnis im Kreis von Freunden verbrachte. Den Hauptteil seiner Darstellung bildet die vollständige Wiedergabe einer philosophischen Diskussion, die Sokrates führte.

Sokrates mutmasst in Phaidon über den Tod:

(Tod als Befreiung der Seele) Vielleicht aber kommt es dir auch wunderlich vor, daß dies allein unter allen Dingen schlechthin so sein soll, und auf keine Weise, wie doch sonst immer, nur manchmal und nur für einige Menschen, die Aussage nämlich, es sei besser zu sterben als zu leben. … Denn was darüber in den Geheimlehren gesagt wird, daß wir Menschen wie in einer Festung sind und wir uns aus dieser nicht selbst losmachen und davongehen dürfen, das erscheint mir eine wichtige Aussage zu sein und gar nicht leicht zu durchschauen. 

… Euch Richtern aber will ich nun Rede und Antwort stehen, daß ich mit Grunde der Meinung bin, ein Mensch, der sein Leben wirklich philosophisch verbracht hat, sollte im Sterben voller Trost sein. Er kann die frohe Hoffnung haben, dort nach seinem Tod das Gute in vollstem Maße zu erlangen.

… Wann also trifft die Seele die Wahrheit? Wenn sie versucht, mit dem Leib etwas zu betrachten, dann wird sie offenbar von ihm betrogen. … Nichts anderes als der Leib und seine Begierden erzeugen auch die Kriege, die Aufstände, die Schlachten. Denn durch den Besitz von Geld und Gut entstehen alle Kriege. … wenn wir je etwas rein erkennen wollen, müssen wir uns vom Leib losmachen und mit der Seele selbst die Dinge selbst erschauen.

(Die Lehre der Wiedererinnerung) … wir mußten, sagen wir, schon ehe dieses geschah, die Erkenntnis des Gleichen erhalten haben? – Ja. – Ehe wir also geboren wurden, müssen wir sie, wie es sich zeigt, bekommen haben.

… Entweder sind wir mit diesem Wissen geboren worden und wissen es unser Leben lang alle, oder die, von denen wir sagen, daß sie später erst lernen, erinnern sich daran, und das Lernen wäre also eine Art Erinnerung.

Buchhinweis: Kritons Dialog mit Sokrates

Der Kriton ist ein in Dialogform verfasstes Werk des griechischen Philosophen Platon. Den Inhalt bildet ein fiktives, literarisch gestaltetes Gespräch.  … Sokrates ist wegen Asebie (Gottlosigkeit) und Verführung der Jugend zum Tode verurteilt worden. Er befindet sich im Gefängnis, wo er auf seine bald bevorstehende Hinrichtung wartet. Kriton besucht ihn, um ihn zur Flucht zu bewegen. Sokrates lehnt jedoch den Vorschlag ab. Er erläutert seine Entscheidung ausführlich. … Das Gespräch, dessen literarische Darstellung möglicherweise auf einer historischen Begebenheit fußt, findet 399 v. Chr. im Gefängnis von Athen statt. Dort ist Sokrates in Haft, seit vor rund vier Wochen das Todesurteil gegen ihn verhängt wurde. Die Hinrichtung wird für den nächsten oder übernächsten Tag erwartet. 

Diese Haltung von Sokrates wird geschildert – ob ich wohl im Schutz des Allerhöchsten eine ähnliche, wenngleich nicht eine stoisch-gleichgültige, entwickeln darf?

(Kriton über Sokrates) Das wäre mir selbst nicht angenehm, in so trüber Lage zu sein wie du und nicht einmal schlafen zu dürfen! Ich habe dir eine ganze Zeit verwundert zugesehen. Wie sanft du doch schläfst! Mit voller Absicht habe ich dich nicht geweckt, damit dir die Zeit angenehm vergeht. Schon oft im Leben habe ich dich wegen deiner Gleichmut glücklich gepriesen, aber jetzt besonders. Wie leicht und milde du das bevor stehende Unglück erwartest!

… (Kriton) Wenn du sterben solltest, ist das für mich nicht einfach ein Unglück. Erstens verliere ich einen Freund, wie ich nie wieder einen finden werde, außerdem aber werden viele glauben, die mich und dich nicht genau kennen, daß ich für deine Rettung kein Geld aufwenden wollte, obwohl ich es gekonnt hätte. … Dann noch, o Sokrates, scheint es mir auch nicht gerecht zu sein, daß du darauf bestehst, dich selbst preis zu geben, obwohl du dich retten kannst.

… nicht nur jetzt, sondern schon immer habe ich die Gewohnheit gehabt, keinem anderen Gedanken zu gehorchen, als demjenigen, der sich mir bei der Untersuchung als der beste zeigt. Ich kann das, was ich seit langem als Überzeugung habe, nicht einfach über Bord werfen, nur weil es mir jetzt als Schicksal begegnet. 

… Also auf keinen Fall, o Bester, müssen wir auf das achten, was die Leute über uns sagen, sondern was der Eine sagt, der sich auf Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit versteht, und auf die Wahrheit selbst. … Nicht einfach nur zu leben, ist entscheidend, sondern gut zu leben.

… Auch hast keine Reisen gemacht wie andere Menschen, noch auch hast du jemals Lust gehabt, andere Städte und andere Gesetze zu sehen, sondern wir genügten dir und unsere Stadt, [52c] so sehr hast du uns vorgezogen. 

Input: Redlich und rechtschaffen gelebt

Sokrates’ berühmte Verteidigungsrede zum Schluss seines Lebens, als er zum Tod verurteilt wurde, wurde im Nachgang aufgezeichnet. Ein unheimlich hoher Selbst-Anspruch. Die höchsten Stufen der bürgerlichen Tugend. Und doch: Keiner reicht hin, um sich vor dem Höchsten rechtfertigen zu können, sagt dazu die Bibel (Römer 3,23). Einige Auszüge:

(jahrelanges öffentliches Reden) zu Zeugen rufe ich einen großen Teil von euch selbst und fordere euch auf, einander zu berichten und zu erzählen, so viele eurer jemals mich reden gehört haben. Deren aber gibt es viele unter euch. So erzählt euch nun, ob jemals einer unter euch mich viel oder wenig über dergleichen Dinge hat reden gehört! Und hieraus könnt ihr ersehen, daß es ebenso auch mit allem übrigen steht, was die Leute von mir sagen.

(extern bestätigte Autorität) … (ein Freund befragte das Orakel in Delphi über Sokrates’ Weisheit) So auch, als er einst nach Delphoi gegangen war, erkühnte er sich, hierüber ein Orakel zu begehren; nur, wie ich sage, kein Getümmel, ihr Männer! Er fragte also, ob wohl jemand weiser wäre als ich. Da leugnete nun die Pythia, daß jemand weiser wäre. …

(keine finanzielle Abhängigkeit) … über diesem Geschäft habe ich nicht Muße gehabt, weder in den Angelegenheiten der Stadt etwas der Rede Wertes zu leisten, noch auch in meinen häuslichen; sondern in tausendfältiger Armut lebe ich wegen dieses dem Gotte geleisteten Dienstes. …

(keine Furcht vor der Todesstrafe) … den Tod fürchten, ihr Männer, das ist nichts anderes, als sich dünken, man wäre weise, und es doch nicht sein. Denn es ist ein Dünkel, etwas zu wissen, was man nicht weiß. Denn niemand weiß, was der Tod ist, nicht einmal, ob er nicht für den Menschen das größte ist unter allen Gütern. Sie fürchten ihn aber, als wüßten sie gewiß, daß er das größte Übel ist.

(Dienst an der Gesellschaft) nichts anderes tue ich, als daß ich umhergehe, um Jung und Alt unter euch zu überreden, ja nicht für den Leib und für das Vermögen zuvor noch überall so sehr zu sorgen als für die Seele, daß diese aufs beste gedeihe, zeigend, wie nicht aus dem Reichtum die Tugend entsteht, sondern aus der Tugend der Reichtum und alle andern menschlichen Güter insgesamt, eigentümliche und gemeinschaftliche.

(Kritiker sind rar) wenn ihr mich hinrichtet, werdet ihr nicht leicht einen andern solchen finden, der ordentlich, sollte es auch lächerlich gesagt scheinen, von dem Gotte der Stadt beigegeben ist …

(einer inneren Stimme gehorchend)  eine Stimme nämlich, welche jedesmal, wenn sie sich hören läßt, mir von etwas abredet, was ich tun will, – zugeredet aber hat sie mir nie. Das ist es, was sich mir widersetzt, daß ich nicht soll Staatsgeschäfte betreiben.

(völlige Freiwilligkeit, keine Schüler) daß ich nie einem jemals irgend etwas eingeräumt habe wider das Recht, weder sonst jemand noch auch von diesen einem, die meine Verleumder meine Schüler nennen. Eigentlich aber bin ich nie irgend jemandes Lehrer gewesen: wenn aber jemand, wie ich rede und mein Geschäft verrichte, Lust hat zu hören, jung oder alt, das habe ich nie jemandem mißgönnt.

(maximale Aufrichtigkeit) ich habe euch die ganze Wahrheit gesagt … wenn ich von unsern Jünglingen einige verderbe, andere verderbt habe, so würden doch, wenn einige unter ihnen bei reiferem Alter eingesehen hätten, daß ich ihnen je in ihrer Jugend zum Bösen geraten, diese selbst jetzt aufstehen, um mich zu verklagen und zur Strafe zu ziehen

Es lohnt sich, die Einleitung von Otto Appelt zu lesen und sich die Rede anzuhören.

Erfahrung: Walking with the Classics

In den vergangenen Monaten erlebte ich – inmitten starker Beanspruchung – einen literarischen Durchbruch. Ich schaffte es über mehrere Wochen an Quelltexten antiker und mittelalterlicher Klassiker dranzubleiben und sogar darin einzutauchen. Das sind meine Hörbuch-Begleiter:

Göttliche Komödie von Dante (um 1300): Hörbuch, gesprochen von Burkhard Wolk; jeder einzelne Gesang wird in 1-2 Minuten eingeleitet und erklärt. Es ist von Nutzen, eine Textausgabe dabei zu haben und sie nachher (auch auszugsweise) zu lesen. Ebenso zog ich Kapitelzusammenfassungen aus dem Internet hinzu (hier und hier).

Politeia von Platon: Hörbuch (Buch I-III), szenisch umgesetzt von Volker Braumann; es gibt eine Gesamtpublikation aller platonischen Dialoge. Ich besitze eine griechisch-deutsche Ausgabe. Für unterwegs habe ich eine elektronische Ausgabe. Als Zusammenfassung half mir diese Fleissarbeit.

Nikomachische Ethik von Aristoteles: Hörbuch, gelesen von Sven Görz, Taschenausgabe für unterwegs sowie Kindle-Text. Auch hier gibt es eine prägnante Zusammenfassung jedes Kapitels.

Gedanken von Blaise Pascal: Hörbuch, phantastisch gelesen von Manfred Schradi, leider ohne inhaltliche Angaben. Hier verweise ich auf Hilfsmittel zum Erschliessen.

Ich kann einmal mehr bestätigen: Die Beschäftigung mit Werken aus anderen Epochen erweitert den Denkhorizont ungemein. Hier führte ich aus, weshalb durch die Klassiker der Weltliteratur Schätze zu heben sind.