4 Fragen zur Erhebung einer “Spirituellen Anamnese”

Die “Professur für Spiritual Care am Interdisziplinären Zentrum für Palliativmedizin” der Universität München beschäftigt sich mit der Integration der spirituellen Dimension in das Behandlungskonzept von Palliativpatienten und chronisch kranken Menschen. Unter den Zielen ist zu lesen:

Mit der Errichtung dieser Professur wird die WHO-Definition von Palliative Care, welche die „Behandlung von Schmerzen sowie anderen Problemen körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art“ umfasst, erstmals akademisch abgebildet.
Dabei bleibt Spiritual Care nicht auf Palliative Care begrenzt. Nicht nur Palliativpatienten, sondern auch z. B. chronisch erkrankte Menschen erleben kritische Lebenssituationen, die Sinn- und spirituelle Fragen aufwerfen. Ebenso bleibt Spiritual Care nicht auf die Perspektive verschiedener religiöser Richtungen begrenzt. Vielmehr verlangt die individuelle Situation eines jeden kranken Menschen einen individuellen Blick, der seine Situation und seine Bedürfnisse grundlegend umfasst.
Deshalb und weil sich in den bisherigen Forschungen die Integration der spirituellen Dimension in das Behandlungskonzept als unverzichtbar erwiesen hat, richtet sich Spiritual Care nicht nur an Seelsorgende, sondern an alle Mitarbeitenden in den Gesundheitsberufen.

So wurde u. a. ein Leitfaden für ein halbstrukturiertes Interview einer “spirituellen Anamese” entwickelt. Es wird gefragt nach

  • S pirituelle und Glaubens-Überzeugungen
  • P latz und Einfluss, den diese Überzeugungen im Leben des Patienten einnehmen
  • I ntegration in eine spirituelle, religiöse, kirchliche Gemeinschaft / Gruppe
  • R olle des Arztes: Wie soll der Arzt mit spirituellen Erwartungen und Problemen des Patienten umgehen?

Nicht operieren ist billiger

Der Herzchirurg Vogt hat Blick online ein interessantes Interview gegeben. Er sieht ein respektables Sparpotenzial in den medizinischen Leistungen.

Anfangen kann man mit invasiven Eingriffen, bei denen Ärzte, salopp gesagt, in einen Patienten schneiden oder stechen. Sie sind teuer, haben oft teure Nachbehandlungen zur Folge und können teure Komplikationen verursachen – aber sie sind nicht immer nötig. Nicht zu operieren ist billiger – vor allem, wenn gar keine Operation nötig wäre.

Ich kann hier nicht mitreden, entdecke jedoch Parallelen zu meinem Fachgebiet. Zum Beispiel: Die erste und wichtigste Frage vor einer Sitzung: Braucht es sie überhaupt?

Kirche: Leaving statt Loving

I see many leaving the church instead of loving her for better or for worse. I see lots of my peers who have 20/20 vision for the church’s failings, but are nearsighted to their own pride, self-importance, and mutual self-congratulation.

Kevin DeYoung. Ted Kluck. Why We Love the Church. Moody Publishers: Chicago 2009.

Über den Charme die Sünden anderer zu bekennen (und an den eigenen vorbei zu blicken)

C. S. Lewis schrieb 1940 – mitten im Krieg von GB gegen Deutschland – über den Charme, die Sünden der Nation, damals die blamable Aussenpolitik Englands, zu bekennen (und an den eigenen Sünden vorbei zu blicken).

Men fail so often to repent their real sins that the occasional repentance of an imaginary sin might appear almost desirable.

… The first and fatal charm of national repentance is, therefore, the encouragement it gives us to turn from the bitter task of repenting our own sins to the congenial one of bewailing but, first, of denouncing the conduct of others. The first and fatal charm of national repentance is, therefore, the encouragement it gives us to turn from the bitter task of repenting our own sins to the congenial one of bewailing but, first, of denouncing the conduct of others.

Das sind weise Worte. Bevor ich das nächste Mal über die Sünden früherer Generationen, des Arbeitgebers oder der Kirchengemeinde lamentiere – gucke ich lieber auf mich und schweige.

Eine neue Ehe – mit dem gleichen Partner

Marc Driscoll, geradliniger und nicht unumstrittener Leiter einer grossen Gemeinde im urbanen Seattle, hat zusammen mit seiner Frau ein Ehebuch „Real Marriage“ geschrieben. Ich habe bloss eine Rezension gelesen. Zwei Dinge haben mich bewegt:

1. Eine neue Ehe, und zwar mit dem gleichen Partner.

Starting with their own story, the Driscolls share how their marriage was nearly shipwrecked through years of difficulty, a lack of intimacy, poor communication, and unresolved sin issues. “We were together, but both very lonely,” they explain. Eventually things came to a head after Mark Driscoll burned out his adrenal gland around 2006. “I needed a new life,” Mark writes. “I did not need a new job, but a new plan for that job. I also needed a new marriage, but wanted to have a new marriage with the same spouse. “ The degree of openness they show might come as a surprise to many readers. It is risky but also necessary to be this vulnerable. It’s risky because the confession gives critics an opportunity to cry foul (“What gives them the right to write a book on marriage if theirs has been so bad?”). But it’s absolutely necessary for readers whose marriages are in danger of falling apart (or perhaps already have) to know there is hope. A broken marriage can be repaired, by God’s grace. 

2. Ehepartner als Freunde

So what does it take to make a good marriage? At its most basic level, you can’t have a godly marriage if you don’t have friendship. They writes, “All the talk about spending time and doing life together, making memories, being a good listener, growing old and taking care of each other, being honest, having the long view of things, repenting and forgiving can be summed up in one word—friendship.” This might seem obvious—at least it should be. But, as the authors note, friendship is often ignored in literature on Christian marriage. If spouses can’t be friends, they’ll quickly become enemies. 

Der zornige und der gütige Gott

Mühevoll pflügte ich mich durch den hebräischen Text von Nahum 1. Es lohnte sich! Welch ein Bild wird da von unserem Gott gezeichnet. Seine Gerechtigkeit und seine Güte sind eng miteinander verknüpft, ja ohne die andere Seite gar nicht richtig verständlich (siehe Das doppelte Fundament christlicher Sozialethik).

Der HERR ist ein eifernder und vergeltender Gott, ja, ein Vergelter ist der HERR und zornig. Der HERR vergilt seinen Widersachern; er wird es seinen Feinden nicht vergessen. Der HERR ist geduldig und von großer Kraft, vor dem niemand unschuldig ist. Er ist der HERR, dessen Weg in Wetter und Sturm ist; Wolken sind der Staub unter seinen Füßen. Er schilt das Meer und macht es trocken; alle Wasser lässt er versiegen. Baschan und Karmel verschmachten, und was auf dem Berge Libanon blüht, verwelkt. Die Berge erzittern vor ihm, und die Hügel zergehen; das Erdreich bebt vor ihm, der Erdkreis und alle, die darauf wohnen. Wer kann vor seinem Zorn bestehen, und wer kann vor seinem Grimm bleiben? Sein Zorn brennt wie Feuer, und die Felsen zerspringen vor ihm. Der HERR ist gütig und eine Feste zur Zeit der Not und kennt die, die auf ihn trauen. Er schirmt sie, wenn die Flut überläuft. Er macht ein Ende mit seinen Widersachern, und seine Feinde verfolgt er mit Finsternis. Was wollt ihr ersinnen wider den HERRN? Er führt doch das Ende herbei. (Nahum 1,3-9)

Schuldenkrise ohne Schuldige?

factum hat in seiner letzten Ausgabe 9/2011 einen Artikel des emeritierten Volkswirtschaftsprofessors Lachmann abgedruckt. Er zeigt auf, wie die Finanzmärkte auf dem Charakter von Menschen gründen. Lesenswert!

Vor einiger Zeit hatte ich die Gelegenheit, die Chinesische Mauer zu sehen und auf diesem imposanten Bauwerk längere Zeit entlangzuwandern. Sie war zur Zeit ihrer Entstehung 6260 km lang, zwischen 5 und 8 Meter breit, 8 bis 16 Meter hoch. Das Bauwerk zieht sich, militärtechnisch geschickt angeordnet, von Hügel zu Hügel nördlich Pekings und war nach menschlichem Ermessen in der damaligen Zeit unüberwindbar. Die Mauer war zu lang, um herumzureiten oder vorbeizumarschieren, sie war zu breit, um sie zu zerschiessen, sie war zu hoch, um sie zu überklettern. Dennoch wurde China in den ersten hundert Jahren nach dem Bau der Mauer drei Mal von Feinden überfallen. Es lag nicht an der Qualität der Mauer. Die Feinde hatten den einfacheren Weg gewählt: Sie hatten die Torwächter bestochen!

Dieses Beispiel weist auf die Wichtigkeit der Moral in unserer Gesellschaft hin. Jede Nation ist nur so stark, wie der Charakter ihrer Bürger es erlaubt. Auch die gegenwärtige Schuldenkrise verweist mit allem Nachdruck auf diesen grundlegenden Sachverhalt. Die Überlebensfähigkeit von Gesellschaft, Staat, Finanzmärkten und der Wirtschaft hängt nicht nur vom Bruttosozialprodukt, von der Waffentechnik oder den marktwirtschaftlichen Wettbewerbsregeln ab, sondern auch vom Grad der vorhandenen Moral. Die Wohlfahrt eines Landes und das Funktionieren der Finanzmärkte sind auf den Charakter der Menschen gegründet. Es braucht Menschen in Politik und Wirtschaft, die verantwortlich handeln. Und es muss klar sein, dass sie sich für ihr Handeln auch verantworten müssen. An beidem mangelt es, beides hat ursächlich mit der heutigen Krise zu tun.

Momente im roten und im grünen Bereich – Serie Woche 1

Grün

  • Um 06.00 Uhr wecken wir in 3-Minuten-Abständen unsere Söhne. Die Skianzüge liegen bereit. Sie ziehen sich an, und 20 Minuten später sind wir auf dem Bus für unseren zweitätigen Neujahrsausflug. Wenn wir eine Stunde später gegangen wären, hätte die Situation schon wieder ganz anders ausgesehen.
  • Auf dem Nachhauseweg stürmen wir das Kinderabteil des Zuges. Ich sitze entspannt im überheizten Abteil, schwere Gerüche in der Luft. Meine Jungs können sich auf der Fahrt austoben. Ich beobachte auf der gegenüber liegenden Seite einen (post-)modernen Vater: Top-Frisur und Brille, doch das Hemd ist vom darunter liegenden Bauch gespannt, die Achselhöhlen verschwitzt, der Blick milchig und gelangweilt. So, als ob ihm die Freude bald nach der Geburt seines Erstgeborenen bald vergangen wäre. Ich beobachte eine Mutter, die ihr Söhnchen hingebungsvoll eine Stunde hin und her trägt. Es sieht seeeehr anstrengend aus, das Gesicht entnervt und freudlos. Ich beisse in einen Cracker und atme durch.
  • Ich möchte spazieren gehen, denn Bewegung tut nicht nur mir, sondern auch den Söhnen gut. Allgemeine Missstimmung und Verzögerung der Vorbereitungen. Es gilt einfach darum durchzuhalten, bis wir draussen sind. Meistens geht es unterwegs dann viel besser. Ich geniesse es, mit meiner Familie auszuziehen.
  • Allerliebst: Ich rufe meinem Bald-Zehnmonatigen. Er gluckst begeistert, verzieht sein Gesicht zu einem Grinsen, und kriecht mir entgegen. Manchmal streckt er mir auch sein Händchen entgegen. Das heisst: Ich möchte mit dir spielen.

Rot

  • Nach dem Essen erledigen die drei Älteren ihre Ämtli – mit einer solchen Geschwindigkeit, dass ich mit meinen kaum nachkomme. Schon liegen sie sich wieder in den Haaren, während ich noch dabei bin, den Geschirrspüler einzuräumen.
  • Wenn ich in Anpannung bin, steigt die Anzahl gesprochener Worte inflationsartig an. Dafür sinkt meine Bereitschaft meinen Worten auch körpersprachlich Geltung zu verleihen, z. B. indem ich aufstehe, entgegen gehe, mich bestimmt hinstelle. Je mehr Worte, desto weniger Gehorsam (die Buben kennen ihren Vater nur zu gut). Bei meiner Frau läuft es umgekehrt: Sie wird wortkarger, die Anweisungen bestimmter.
  • Ich bin mit meinen Söhnen im Hallenbad. Neben dem üblen Wassergeruch nervt mich, dass ich nicht besser crowlen kann; dass mein Zweiter noch nicht besser schwimmen kann; dass es kein Sprudelbad gibt. Doch dann halte ich kurze Zeit inne: Ich blicke aus den Fenstern in das wunderbare Bergpanorama und schimpfe leise mit mir – so ein undankbarer Kerl.
  • Papi, wo ist Mami? (Mein Vierter mit lauter Stimme.) – Sie ist bereits vorausgegangen in die Migros. – Wo ist sie? – In der Migros. – Wooo? – Ich habe es dir schon gesagt. – Jetzt will ich wissen, wo sie ist. – Mein Sohn, wir sind gleich dort. – Ist sie dort? – Nein. – Da? – Nein. – Wo ist sie? – Seufz. // Nach diesem Dialog wird mir klar, dass es nicht um die Information alleine geht. Er wollte nicht verständig sein, weil ihn der Ist-Zustand nicht befriedigte. Eigentlich wäre er lieber mit Mami einkaufen gegangen.

Warum der Skeptizismus in Zeiten des Ich-Kults Hochkonjunktur hat

Chestertons spitze Feder entspringen einige treffende Bemerkungen zum Skeptizismus. Im ersten Ausschnitt zeigt er auf, weshalb der Skeptiker in Zeiten des Ichkults Hochkonjunktur hat:

Es gibt eine Form der Skepsis, die weit fürchterlicher ist als die Überzeugung, dass die Materie der Anfang von allem ist. Ich denke an den Skeptiker, der die Überzeugung hegt, dass er selbst der Anfang von allem ist. Er zweifelt nicht an der Existenz von Engeln und Teufeln, sondern daran, dass es Menschen und Kühe gibt. Für ihn sind seine eigenen Freunde Märchengestalten, die er selbst er dichtet hat. Vater und Mutter sind seine eigenen Geschöpfe. Diese schreckliche Phantasterei übt auf den geradezu mystischen Ichkult unserer Tage einen unverkennbaren Reiz aus. (59)

Einige Zeilen später beschreibt Chesterton, was die langfristigen Folgen eines solchen Denkansatzes sein können:

Wenn dann die ganze freundliche Welt, die diesen Skeptiker umgibt, als Lüge entlarvt ist, wenn die Freunde zu Gespenstern verblasst sind und die Welt bodenlos geworden ist und er, der an nichts und niemanden glaubt, allein in seinem Alptraum zurückgelassen bleibt, dann wird in rächender Ironie das grosse Motto seines Individualismus über seinem Haupt geschrieben stehen. Die Sterne werden zu blossen Leuchtpunkten in der Finsternis seines Gehirns; seine Mutter wird nichts als eine flüchtige, seinem Wahn entsprungene Erscheinung an der Wand seines Kerkers sein. Über seinem Kerker aber wird die grauenvolle Wahrheit geschrieben stehen: „Er glaubt an sich.“ (60)

In seinen Erörterungen zur Demut schreibt er von der falschen Bescheidenheit des Skeptikers:

Wir sind auf dem besten Weg, ein Geschlecht hervorzubringen, das so bescheiden ist, dass es nicht einmal mehr an das Einmaleins glaubt. Uns drohen Philosophen, die am Gravitationsgesetz zweifeln und den Verdacht hegen, es handele sich dabei um ein blosses Hirngespinst ihrer selbst. Früher waren die Spötter zu stolz, um sich überzeugen zu lassen; heute hingegen sind sie zu bescheiden, um sich eine Überzeugung zuzutrauen. (71)

Konsequent zu Ende gedacht, zielt der Skeptizismus am allermeisten auf das, was er als unbedingt schützenswert ansieht – den Verstand.

Ist man bloss Skeptiker, so drängt sich einem früher oder später die Frage auf: ‚Warum sollte irgend etwas zutreffen, empirische Beobachtung und logisches Denken eingeschlossen?Warum sollte logische Stringenz weniger irreführend sein als logische Ungereimtheit? Spielt sich doch beides im Gehirn eines verwirrten Grossaffen ab.’ Der junge Skeptiker erklärt: ‚Ich habe ein Recht darauf, selbständig zu denken.’ Der alte Skeptiker, der vollkommene Skeptiker, aber sagt: ‚Ich habe kein Recht auf selbständiges Denken. Ich habe überhaupt kein Recht auf Denken.’ (73)

G. K. Chesterton. Orthodoxie. Fe-Medienverlags GmbH: Kisslegg 2011.