Der 2011 verstorbene Wolfgang Bergmann war Pädagoge und Familientherapeut. Der Buchtitel könnte auch als Motto eines Seminars für Manager durchgehen: "Ich bin der Grösste und ganz allein." Er tastete – um seine eigenen Worte zu verwenden – "nach der neuen Kinderwirklichkeit und ihren seelischen Folgen". Bergmann arbeitet gekonnt zwei wichtige Erkenntnisse heraus:
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Wie Medienkinder ticken
Sie sind ungeduldig in der Verfolgung ihrer Ziele, heftig, wenn ihnen Wünsche versagt bleiben (13). Langweilig ist alles, was nicht höchste Konzentration erfordert und dadurch Faszination erzeugt, oder nicht sehr schnell, mit Action vor sich geht (15). Stündlich werden sie von Medienbildern von Perfektion und Vervollkommnung bombardiert. Die Wirklichkeit verliert an Wert (21). Da Kinderwünsche total sind und per Mausklick befriedigt zu werden scheinen, fällt Verzicht schwer und bindet, wo er doch geleistet werden muss, Kräfte über einen langen Zeitraum (22, 23). Die Geschichtslosigkeit steckt in allen Dingen, sogar in den Wünschen (27). Doch: Die Kids werden immer intelligenter und kreativer, denn der Computer ermöglicht neue Erfahrungen und Selbsterprobungen (29). Ungezwungen begeben sie sich in öffentliche Kommunikationsräume, um ihre Ideen der Welt mitzuteilen (33). Alles ist gleichgültig, was über den Moment hinausreicht (35). Die Zwischenräume für Kommunikation über das Geschehene fehlt: Über die Spiele im Netz oder im Computer kann man kaum reden (37). Das erzeugt keine dauerhaften Bindungen. Ihre Gruppen zerfallen immer wieder, dann sitzen sie allein zu Hause, wissen nichts mit sich anzufangen und warten auf den nächsten Reiz (41). Während sie in ihren Spielen schöpferisch tätig sind – im Wissen darum, dass sie gleichzeitig abhängig sind -, wirken sie in ihren Beziehungen hilflos (44). Aus dem Funktionieren in den Cyber-Welten scheinen sie eine Art Sicherheit zu beziehen (47). So sind die Medienkinder schnell, ziellos und gleichzeitig sensibel. Da Reize gleichzeitig aufgenommen werden, fällt es ihnen schwer, eine Wertigkeit herzustellen (51). Entscheidungsschwäche stellt sich ein (52). -
Söhne ohne Väter
Ein zweites Themenfeld von Bergmanns seelischer Analyse der heutigen Kinder ist die Identitätsnot der Jungs wegen ihren desorientierten Vätern. Für Männlichkeit scheint es keine sozial akzeptierten Bilder zu geben. (Für die kleinen Mädchen sieht das anders aus: Sie begegnen dauernd weiblichen Vorbildern über alle Medien. Moderatorinnen, Präsentatorinnen, Stars zeigen ein ganz bestimmtes Bild von Attraktivität, dem ein Mädchen durchaus nacheifern kann.) Wie Harrison Ford oder Daniel Craig kann man sich nicht verhalten, auch nicht wie Rambo. Diese Männlichkeitsbilder haben einen eigenartigen Hang zum Flüchtigen, Realitätsfernen, gerade dann, wenn Männlichkeit im Spiel ist. (60-61)Wie wird ein Junge zum Mann? Diese Frage ist für die Jungen und auch für Eltern schwer zu beantworten (62). In allen traditionellen Gesellschaften gab es hart disziplinierende Formen und Riten für die heranwachsenden Jungen (63). Computerspiele muten wie ein Ersatz für verloren gegangene Initiationsriten an (68). Heute ist ein Junge stark eingebunden in eine nahezu symbiotische Einheit mit der Mutter (64). Von den Vätern ist kaum Orientierung zu erwarten: Entweder verbirgt er polternd und dröhnend seine Schwäche (70), oder es ist ihm jegliche Dominanz abhanden gekommen (71). Oder aber er ist ein beruflich erfolgreicher Vater, der den Sohn lehrt, aus jeder Situation mit der unerschütterlichen Maske des Gewinners hervorzugehen (72). Bergmanns Ruf mutet schon fast prophetisch an: Väter, eure Söhne verlangen nach eurer Fürsorge und eurer Lenkung (wohlgemerkt: nach beidem). Sie suchen nach einer bergenden, schützenden Ordnung (82).
Bergmanns Buch war für mich der Anstoss für den Aufsatz "Ein richtiger Mann – Boas aus dem Buch Ruth".