Von der Vergötzung menschlicher Gefühle

Der grosse Pädagoge und Philosophe Eduard Spranger entwarf ein Menschenbild, das starke Anklänge an die Mystik hat, u. a.

  • Rückzug des Menschen in seine einsamste tiefste Innerlichkeit
  • Glaube an den Tiefengrund der Seele mit einer magischen Verbindung mit Gott in einer Art Uroffenbarung
  • Abwertung des Welthaft-Kreatürlichen als mystische Entbindung
  • durchgehende Spiritualisierung der Lebensvorgänge im Sinne einer abstrahierenden Erhebung des Geistes zum Absoluten

Damit einher gehen folgende Kritikpunkte:

  • Spranger sieht den Menschen als einzelnen in unmittelbarer Verbindung mit Gott unter weitgehender Ausschliessung des Menschen. Die Aufgabe des  Erziehers besteht darin, seine Innerlichkeit zu erwecken. Der andere Mensch wird vorweg schon nach den Kategorien und Massstäben des eigenen Selbst verstanden. Aber gegenüber dem individualistischen Personalismus ist die Rolle des Mitmenschen wesentlich und konstitutiv für den Menschen!
  • Das Menschenbild ist beflügelt vom Aktivismus des deutschen Idealismus: "Nur dem Handelnden kommt die Gnade. Nur wer an sich arbeitet, verhilft der Gottheit zum Durchbruch. Der Passive aber empfängt den Besuch der Gottheit gleichsam unvorbereitet und unvollkommen." Dies steht dem biblischen Menschenbild entgegen, der aus eigenem Streben nie zu Gott aufsteigen kann, sondern unverdient begnadigt wird.
  • Die Unio mystica mit Gott – die Vorstellung, dass sich Göttliches in Menschliches verwandle und Menschliches in Göttliches – ist Irrwahn der angeblichen Freiheit des Menschen. Dies ist eine Art Hybris, eine Selbstherrlichkeit des Menschen gegenüber Gott. Die Zustände höchster Seligkeit, in denen Spranger die Hand Gottes zu spüren glaubt, ist nichts anderes als Vergötzung menschlicher Gefühle. Zudem wird die wesensmässige Sündhaftigkeit des Menschen ausgeklammert.
  • Zwischen Gott und den Menschen besteht ein unendlicher Abstand, eine wesensmässige Verschiedenheit. Weder die Natur noch die Geschichte, weder der menschliche Seelengrund noch die Kultur, sind Wege, Himmelsleitern, auf denen der Mensch zu Gott findet.

 

Leonhard Jost, in: Eduard Spranger. Zur Bildungsphilosophie und Erziehungspraxis. Verlag Schweizerischer Lehrerverein: Zürich 1983. (30 + 38-43)