Wie gross auch in seiner Jugend der Einfluss des Humanismus gewesen sein muss … so musste Calvin doch seine Bekehrung notwendigerweise als einen völligen Richtungswechsel auffassen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die humanistischen Werte in seinen Augen den Gipfel des vom Menschen Erreichbaren dargestellt. Der Humanismus war ihm im Verhältnis zur Religion, soweit er dem Kult der antiken Weisheit entsprach, als eine Vorbereitung, ein Hinschreiten zu den christlichen Wahrheiten erschienen. Jetzt merkte er, dass es eine Kontinuität zwischen der Philosophie der Alten und dem Christentum nicht gibt. Dem schon vom Wort her auf der Grösse des Menschen beruhenden Humanismus wird er von nun an die Verderbnis des Menschengeschlechts durch die Sünde und dessen Gottentfremdung entgegensetzen. Den Verfechtern des freien Willens und der menschlichen Autonomie wird er mit der Predigt von der Abhängigkeit des Menschen und seiner unausweichlichen Unterwerfung unter die Beschlüsse der Prädestination antworten. …
Vor seiner Bekehrung war der Humanismus für ihn Selbstzweck; nach diesem Ereignis ist er nur noch Mittel zum Zweck, und man kann … sagen, dass er sich des Humanismus bedient hat, um den Humanismus zu bekämpfen. Die Philosophen der Antike bewundert er auch weiterhin, er achtet fortgesetzt Erasmus und dessen Schüler, und er wird sein ganzes Leben hindurch nicht aufhören, ihre Arbeiten und Schriften sein ganzes Leben hindurch nicht aufhören, ihre Arbeiten und Schriften zu schätzen und zu benutzen. Aber er wird immer Sorge tragen, dass er sich nicht zu sehr an sie bindet, und er wird immer betonen, dass es nicht gut ist, ‘den Philosophen weiter zu folgen als es nötig ist’.
Aus: François Wendel. Calvin – Ursprung und Entwicklung seiner Theologie. Neukirchener Verlag: Neukirchen-Vluyn 1968. (29-30)