Über den Stellenwert des Willens

Wie aus meinen jüngsten Posts entnommen werden kann, beschäftige ich mich zur Zeit mit dem Kirchenvater Augustinus (365-430) und seinem jahrelangen Kampf gegen den britischen Mönch Pelagius. Ich tue dies nicht in erster Linie aus historischem Interesse, sondern weil ich überzeugt bin, dass die Fragestellungen dieses Konflikts aktuell und relevant sind. Ein zentraler Streitpunkt betraf den Stellenwert des menschlichen Willens. In wie weit ist der menschliche Wille in der Lage, von sich aus Gutes zu vollbringen? Dazu Augustinus in einem Bild:

Denn auch das Auge hat von sich aus nicht die Kraft etwas zu sehen, es ist auf die Finsternis eingestellt; um aber zu sehen, genügt nicht die Kraft des eigenen Lichtes, es muss ihm noch von aussen die Unterstützung durch ein Licht geschenkt werden.

Dieses Licht aber gewähre Gott nicht denen

die sich einbilden, sie könnten sich selbst lenken, und die in ihrem Vertrauen auf den eigenen Willen ihn nicht als ihren Lenker anerkennen wollen.

Gottes Rolle, wenn er in den Erlösten Gutes wirkt, ist aktiv lenkend:

So lenkt Gott die, welchen er bei ihrer Entscheidung für das Gute helfend zur Seite steht, und infolgedessen tun diese Menschen alles, was sie tun, recht, weil sie vom Guten gelenkt werden.

Der Kommentator der deutschen Übersetzung fasst die Position von Augustinus so zusammen:

Für Augustins eigene Auffassung vom Verhältnis von Gnade und freiem Willen erscheint hier das Wort Röm 8,14 massgeben, „Alle, welche durch den Geist Gottes getrieben werden, sind Kinder Gottes.“ Das Gute vermag der menschliche Wille nur mit Gottes Hilfe zu vollbringen, ähnliche wie das Auge zum Sehen der Unterstützung durch das Licht bedarf. So stark wirkt dabei die Gnade, dass der Mensch von ihr nicht nur gelenkt, sondern nach dem zitierten Apostelwort förmlich getrieben wird. Das Beste, was der freie Wille tun kann, ist, sich ganz dem göttlichen Antrieb anzuvertrauen. Doch auch schon dabei kommt ihm Gottes Gnade zuvor.

Aurelius Augustinus. Die Verhandlungen mit Pelagius. In: Schriften gegen die Pelagianer, Band II, Augustinus-Verlag: Würzburg 1964. (211, 213, 491)