{Lektüre} Die Religion als Stütze des gefallenen Menschen

Anschnallen, konzentrieren, und los: Kuyper beschreibt in seinen “Vorlesungen über den Calvinismus” (2. Vorlesung “Der Calvinismus und die Religion”) treffend die Funktion von Religionen – egal, in welcher Form sie auftritt:

Die neuere Religionsphilosophie lässt die Religion hervorgehen aus dem, was sie nicht erschuf, sondern nur bei dem anormalen, d. h. gefallenen Menschen stützt und im Stande hält. Sie sieht das Stöckchen bei dem Steckling für den Steckling selber an. Dabei weist man richtig auf den Gegensatz zwischen dem Menschen und der Übermacht des ihn umringenden Kosmos. Nun tritt die Religion als Rettungsmittel ein, um den in Furcht befangenen Menschen gegenüber diesem drohenden Kosmos zu stärken. In sich selber fühlend, wie sein Geist seinen Körper beherrscht, vermutet er, diesen Kosmos nach sich selber beurteilend, auch in der Natur die Triebkraft eines verborgenen Wesens. Animistisch erklärt er die Bewegung in der Natur aus dem Innewohnen eines Heeres von Geistern und versucht nun, diese Geister zu fangen, zu beschwören und nach seinem Belieben zu beugen.

Allmählich klimmt er aus dieser atomistischen Auffassung zu einer mehr monistischen empor und glaubt an Götter, die, bald hierarchisch unter einem Gott konzentriert, über der Natur stehen und ihm also gegen die Natur helfen können. Und endlich, wenn er den Gegensatz zwischen dem, was geistig und was stofflich ist, begreift, ehrt er den Urgeist als den allem Sinnlichen gegenüberstehenden, um bald auch diesen Urgeist fahren zu lassen und in der Hoheit seines eigenen Geistes gegenüber allem Stofflichen sich vor einem Ideal niederzubeugen, dessen heroischer Träger er selber ist.

Doch durch welche Stadien diese egoistische Religion sich auch fortbewegt, sie ist immer subjektiv und besteht um des Menschen willen. Man ist religiös,  um die Naturgeister zu beschwören, um sich gegenüber dem Kosmos freizumachen, um sich im Bewusstsein seiner Geistesmacht über alles Sichtbare zu erheben. Gleichviel, ob der Lamapriester den bösen Geist in seinen Krug sperrt, ob bei den Naturgöttern des Ostens Hilfe gegen die Natur gesucht wird, ob in den intelligenteren Göttern Griechenlands eine gewisse Geistesmacht angebetet wird, die sich über die Natur erhebt, oder ob endlich in der idealistischen Philosophie der Geist des Menschen selber Gegenstand der Anbetung wird: es ist und bleibt eine Religion, die dem Menschen Sicherheit, Befreiung, Selbsterhebung, zum Teil sogar selbst über den Tod, garantieren soll.

Und wenn auch diese Religion sich monotheistisch zuspitzt, bleibt der Gott, den man anbetet, ein Gott, der dazu da ist, um den Menschen zu helfen, um in den Staaten Ordnung und Ruhe, um in der Not Hilfe und Rettung, gegenüber dem, was erniedrigt und entadelt, Veredelung und höhere Beseelung zu verbürgen. Folge hiervon ist denn auch, dass alle solche Religion blüht bei Hungersnot und Pest, blüht unter den Armen und Bedrückten, blüht bei den Kleinen und Ohnmächtigen, aber welkt in Tagen des Fortschritts, die Bessergestellten nicht anzieht und von höher entwickelten Geistern aufgegeben wird. Sobald man sich ruhig und gutgestellt fühlt und dank der Wissenschaft sich durch den Kosmos und seine vernichtenden Mächte nicht länger bedroht weiss, wirft man die Krücken der Religion weg und läuft unreligiös auf eigenen Beinen; eine selbstsüchtige Religion, die, sobald dem selbstsüchtigen Interesse Genüge geschehen ist, als überflüssig wegfällt.