Calvin-Experte Albrecht Thiel stellt in diesem Aufsatz Johannes Calvin als Prediger vor. Von den rund 4000 Predigten sind 38 % erhalten geblieben. Thiel meint:
Calvin als Prediger ist weithin noch zu entdecken. Der Systematiker der „Institutio“, der Mann der theologischen Synthese, der .kumeniker – all diese Prädikate sind sicher richtig. Dennoch: Die Haupttätigkeit Calvins ist das Predigen gewesen. Er selbst bezeichnete sich als „Lektor der Heiligen Schrift an der Genfer Kirche“. Vor allem anderen war es seine Aufgabe, in Vorlesungen, Congrégations (das waren die wöchentlichen, verpflichtenden Pfarrkonferenzen mit dem Thema der theologischen Auslegung eines biblischen Buches) und vor allem in Predigten das Wort Gottes zu erklären und auszulegen.
Von welchem Selbstverständnis ging Calvin als Prediger aus?
Das Wort, mit dem er die Gemeinde unterweist, empfängt er vorher selbst als Belehrung. Nicht er muss die Predigt als rhetorische Leistung „machen“, sondern hat in ihr als treuer Zeuge das vorher gesagte Gotteswort nachzusprechen. Reflektiert ist dies in einem Abschnitt in einer Predigt über Dtn 6: „Das ist, als wenn ich auf die Kanzel stiege und ich es wagte, gar keinen Blick ins Buch zu werfen und ich mir eine frivole Einbildung zurechtschmiedete und sagte: ‘Ach ja, wenn ich dahin kommen werde, wird Gott mir genug geben, worüber ich sprechen kann.’ Und wenn ich es wagte, nicht zu lesen, nicht zu denken an das, was ich vorbringen muss und ich hierhin käme, ohne gut vorüberlegt zu haben, wie man die Heilige Schrift zur Erbauung des Volkes anwenden kann – dann wäre ich ein anmassender Mensch und Gott würde mich verwirrt machen in meiner Kühnheit.“
In der Predigt über 1. Tim 3, 1-4 vom Dezember 1554 (CO 53, 257-272) karrikiert Calvin die Haltung, mit der sich der Prediger selbst in Szene setzt:
Denn der Heilige Paulus will nicht, dass man hier nur ein Zurschautragen macht und dass ein Mensch sich zeigt und da. jeder ihm applaudiert und sagt: Oh ja, gut gesprochen, oh das grosse Wissen, oh der subtile Geist!