Im (katholischen) Luzern habe ich gestern ein kleines Büchlein mit einer Auswahl von Seneca-Zitaten erstanden. Im Vorwort von 1946 (ein Jahr nach Ende des 2. Weltkrieges) ist da zu lesen:
Unser Zeitalter hat einen solchen Grad der Un-natur und Un-menschlichkeit erreicht, dass man nicht ohne seelischen Gewinn zum Idealbild natürlicher Menschlichkeit zurückkehrt, wie es edle Geister des Altertums in ihren Schriften schauten und erstrebten. Gewiss werden wir beim Humanimus der Antike nicht stehen bleiben. Aber da nun einmal die Gnade auf der Natur aufbaut, werden wir im Sinn eines ‘christlichen Humanismus’ immer wieder mit Nutzen aus der Erfahrungsweisheit der Alten schöpfen.
Und ein Zweites – Tertullian drückt es aus in seinem berühmten Wort, die Menschenseele sei von Natur aus christlich -: War nicht Christus in der ganzen vorchristlichen Welt, der heidnischen wie der jüdischen, im Kommen begriffen? Tatsächlich finden wir gerade bei den geistigen Schöpfungen der Antike immer wieder jenes seltsame Aufblitzen christlichen Gedankengutes, das uns heute, in einer Periode wachsenden modernen Heidentums, zugleich mahnend und tröstlich berührt.
Antike Erziehungsweisheit – ethische Unterweisungen aus Seneca. Rex-Verlag: Luzern 1946.
- Was dieser Kommentator anfügt, sehe ich aus anderer Perspektive: Gnade baut nicht auf der Natur auf, indem sie eine zweite übergeordnete Ebene herstellt, sondern die Gnade stellt die Natur wieder her. Zur Kritik siehe Herman Bavinck “Nature and Common Grace”.
- Zur Thematik siehe auch die kleine Serie zu Johannes Calvin “Wie weit ist Verstand und Wille des natürlichen Menschen durch die Sünde beeinträchtigt worden?” (hier geht zum ersten Teil) sowie das Zitat von Augustinus “Philosophie zwischen Spekulation und wichtigen Entdeckungen”