Thomas Schirrmacher zum Bibelverständnis der Evangelikalen:
Die Evangelikalen sind durch zwei Paare entgegengesetzter Pole gekennzeichnet und man wird ihnen nicht gerecht, wenn man jeweils nur einen der Pole sieht.
Einerseits ist das die von den Evangelischen ererbte Zentralität der Heiligen Schrift. Andererseits ist es der aus Luthers Frage ‚Wie bekomme ich einen gnädigen Gott‘ hervorgegangene Heilsindividualismus. Es geht darum, dass jeder Mensch seine persönliche Beziehung zu Gott hat und daraus ergibt sich als Korrektur zur Zentralität der Schrift die Berechtigung, ja Verpflichtung jedes Christen, die Heilige Schrift selbst zu studieren und auszulegen, womit er mit jedem noch so gebildeten evangelikalen Theologen, auch seinem Pastor, gleichauf steht. So vereint die evangelikale Welt die dogmatische Enge dank der Bibelfrage mit einer enormen demokratischen Weite, weil jeder theologisch mitreden darf.
Die zweite Spannung ist die zwischen Mission und Religionsfreiheit. Aus der enormen Betonung der persönlichen Beziehung zu Jesus entstand sowohl die starke Betonung der „Zeugnispflicht“ als auch die starke Betonung der Religionsfreiheit. Das Konzept der Freiwilligkeit prägte nicht nur die Freikirchen, sondern auch den innerkirchlichen Pietismus, für den Glaube nicht nur etwas Äußerliches, Ererbtes sein dürfte, sondern etwas persönlich Erfahrenes. Dazu aber kann man niemand zwingen, ja Zwang macht die Möglichkeit zunichte, eine wirklich eigenständige, persönliche Umkehr zu Gott zu vollziehen. Also lieber eine kleinere Kirchen mit überzeugten Mitgliedern, also eine große mit vielen Mitgliedern, die nur dank gesellschaftlichem, familiärem oder sonstigen Druck dazugehören.