Unterricht zu Hause (4): Falle “Idyllische Kindheit”

Wer den Schritt wagt und den zusätzlichen Aufwand zugunsten der Familie investiert, für den öffnen sich auch Fallgruben. Die Idealisierung der Kindheit ist aber nicht nur für Homeschooler-Eltern eine Gefahr, sie ist es für Eltern generell. Flitner fasst gut zusammen:

Alle Klassiker und Neuerer einer “Pädagogik vom Kinde aus” … können dem Einwand nicht entgehen, dass das Kind, das da zum Zentrum und zum Massstab der Erziehung gemacht werden soll, auch eine Wunschfigur der Erwachsenen ist. Die Reformpädagogik der klassischen Zeit war gekennzeichnet durch eine Überfrachtung des Kindes mit den eigenen Problemen der Erwachsenen, ihren Hoffnungen auf eine Besserung der Welt aus dem “Geiste der Kindheit”. Es sind Idealisierungen des Kindes, mit deren Hilfe die Erwachsenen sich selber und ihre Welt in Frage stellen; Projektionen also: die eigenen Wünsche und Hoffnungen werden auf die scheinbar weisse Leinwand der Kindheit projiziert. Wie aber soll eigentlich eine Gesellschaft besser werden, wenn die Erwachsenen sich der Illusion hingeben, der Neuanfang sei in erster Linie bei den Kindern möglich; er sei also nicht etwas, was sie für sich selbst, allenfalls zusammen mit ihren Kindern, leisten müssten? (Andreas Flitner. Reform der Erziehung. Beltz: Weinheim/Basel 2010 (4. Auflage), S. 48-49)

Rousas J. Rushdoony hat dieselbe Beobachtung in seinem Buch „Intellectual Schizophrenia“ mit dem aufklärerischen Paradigma verbunden und kommentiert. Er meint: Von John Locke und Jean-Jacques Rousseau her hat sich das Konzept des Geistes als leeres Blatt etabliert. Ein Kind wird in Unschuld geboren und Stück für Stück von seiner Umgebung verdorben. Was geschieht nun, wenn Eltern (und Lehrkräfte) von dieser Voraussetzung ausgehen? Der “Geist” eines Kindes wird durch diesen Interpretationsrahmen zu einem programmierbaren Bereich. Er ist mehrheitlich passiv und empfangend. Für Ausbildung und Erziehung hat dies einen doppelten Effekt: Der Ausbilder bekommt die Rolle eines Gottes (weil er das Blatt beschreibt). Er beliefert das Kind mit “kindgerechten” Häppchen. Und Ausbildung wird zum sozialen, ethischen und ökonomischen Problemlöser. Denn man muss ein Kind nur richtig programmieren. Doch entspricht dieses Denken der Realität? Nein.

Als Christ gehe ich davon aus, dass Gott Kinder und Erwachsene mit einzigartigen Gaben ausgestattet hat (sie sind in Gottes Ebenbild geschaffen), und dass gleichzeitig in jedem Menschen ein destruktives Potenzial schlummert (sie sind Sünder). Zu dieser Neigung zum Schlechten die Statements dreier berühmter Männer:

  • Wer wissen will, ob der Mensch (nur) gut ist, muss nur die Zeitung aufschlagen, meinte der berühmte US-amerikanische Ethiker Reinhold Niebuhr.
  • Und der greise Kirchenvater Augustinus schrieb, dass er nicht wisse, zu welchem Schlechten er am kommenden Tag fähig sei.
  • Der berühmte Schriftsteller G. K. Chesterton wurde gefragt: Was ist verkehrt an dieser Welt? Er schrieb kurz und mündig: Ich.

Dieses realistische Bild bedeutet für mich dreierlei:

  1. Die Schuldzuweisung an die Umgebung allein ist trügerisch. Die Schule als überforderte Institution, die Städte als nicht kinderfreundliche Umgebung, ausgebrannte Lehrkräfte und die permanente Versuchung reale Erlebnisse im Freien durch rein geistige Turnübungen am Computer zu ersetzen sind zwar Hinweise darauf, dass im System als Ganzes der Wurm steckt. Doch all diese Faktoren können letztlich nicht vom Hauptproblem ablenken: Uns selbst.
  2. Lernen in der Schwäche. Ich höre dauernd, dass die Stärken verstärkt werden sollen. Dem stimme ich zu. Die von Gott in ein Kind hineingelegten Fähigkeiten sollen nach Möglichkeit unterstützt und gefördert werden. Doch gleichzeitig gibt es auch ein Lernen in der Schwäche. Dort, wo mein Kind und ich nicht brillieren, dort bleiben wir dran. Dort entwickelt sich Charakter – Demut, Geduld, Hartnäckigkeit, Fleiss. Das sind alles Tugenden, von denen ein Kind ein Leben lang zehren wird.
  3. Das Bewusstsein, dass in Eltern und Kindern ein destruktives Potenzial schlummert, das immer wieder zum Tragen kommt, führt zu Jesus. Denn wer sich nie seiner eigenen Unzulänglichkeit und Fehlbarkeit richtig bewusst geworden ist, kann auch nicht nachvollziehen, warum er Christus braucht. Das Angebot für Eltern und Kinder zu Christus zu kommen, ist genial. Sie dürfen ihre eigene Ungerechtigkeit gegen die göttliche Gerechtigkeit eintauschen – ohne Verdienst und umsonst. Der Glaube ist, so Martin Luther, ein fröhlicher Tausch.

Unsere Selbstgerechtigkeit tauschen wir mit der geschenkten Gerechtigkeit Gottes. Gott nimmt unsere Schuld und vergibt uns diese in Jesus Christus. Er hat sie an meiner Stelle mit seinem Leben bezahlt. Als Tausch schenkt er mit Seine Gerechtigkeit als Kleid, um unsere Blösse zu bedecken. Die Gerechtigkeit Gottes bedeckt mich vor meinen eigenen und anderen kritischen Augen. Mit diesem Mantel der Gerechtigkeit bedeckt und von Gott als gerecht bezeichnet, sind wir Menschen nicht mehr „bloss gestellt”. Wir brauchen die bis jetzt benutzten Feigenblätter der Selbstrechtfertigung nicht mehr, weil wir eine bessere Bedeckung erhalten haben. So haben wir Freiraum, mehr zu lieben und weniger darauf bedacht zu sein, keine Blösse mehr zeigen zu müssen. (Beat Tanner, Ehe- und Familientherapeut)