Mit der Abschaffung von alten Tabus werden neue geschaffen. Ein fatales neues Tabu der Ich-Gesellschaft lautet: „Ich darf (oder muss) mich nicht einmischen.“ Wie tief dieses Tabu verankert ist, zeigt sich an Vorkommnissen wie diesem (siehe dieser Post): Da wird einem wehrlosen kleinen Jungen die Hosen heruntergezogen, und niemand setzt sich für ihn ein. Viel Schamloses ist erlaubt (enttabuisiert), die Scham zu schützen jedoch nicht (neues Tabu).
Nehmen wir uns ein innerkirchliches Tabu vor: Den Gottesdienstbesuch. Wie spreche ich Menschen an, mit denen ich durch gemeinsames Bekenntnis verbunden bin, die aber selten bis gar nicht mehr den Gottesdienst besuchen? Gleich meldet sich eine innere Stimme: „Du darfst dich nicht einmischen.“ „Lehne dich nicht zu weit zum Fenster heraus.“ Und in der Tat: Wenn Mann sich getraut, solche Dinge anzusprechen, landet er just in jener Ecke, die er sich gar nicht wünscht. Er findet sich in der Schandecke „gesetzlich“ wieder und hat sich zu schämen. Denn er hat die oberste Maxime der Frommen, nämlich „bedingungslose Liebe und Annahme“ mit dem minderwertigen, Zeigefinger erhebenden Pharisäergewand eingetauscht.
Nun wird leider mit dem Wort „gesetzlich“ viel Unfug getrieben. In der Kommunikation würde man von „Killerworten“ sprechen. Wer mit dem Etikett „gesetzlich“ behaftet worden ist, der wird gemieden. Wie definiert die Bibel den Begriff? Sie bezeichnet alle diejenigen Gebote als “gesetzlich”, die über oder neben seiner Ordnung eingeführt werden. Jesus sagt davon, dass Gesetzlichkeit das Gesetz Gottes aufhebt! Die Pharisäer setzten mit einer raffinierten und scheinbar frommen Interpretation von Geldspenden das Gebot, Vater und Mutter zu versorgen, ausser Kraft (Markus 7,13). Mehr dazu siehe hier und hier.
Also stellt sich die Frage: Ist es gesetzlich, den regelmässigen Gottesdienstbesuch von bekennenden Gemeindegliedern voraus zu setzen? Nein. Der Hebräerbriefschreiber adressiert an die Gemeinde folgende Aufforderung: „Lasst uns aufeinander achten und uns zur Liebe und zu guten Taten anspornen. Lasst uns nicht unseren Zusammenkünften fernbleiben, wie es einigen zur Gewohnheit geworden ist, sondern ermuntert einander, und das umso mehr, als ihr seht, dass der Tag naht.“ (Hebräer 10,24+25) Aufeinander achtgeben, anspornen, ermuntern: Das Zusammenkommen hat einen schützenden und bewahrenden Charakter. Das machen auch die übrigen „Lasst uns achtgeben“-Stellen des Hebräerbriefes deutlich, z. B. in Hebr 4,1. Wir sollen besorgt sein, dass “niemand zurückbleibt”.
Dabei hätten die Christen damals gewichtige Gründe für das Fernbleiben vorzubringen gehabt. Die Menschen mussten mit Hausdurchsuchung und Plünderung rechnen (vgl. Hebr 10,34). Heute hindern uns ein veränderter Schlafrhythmus übers Wochenende, Fussball, ein sonniger Sonntag oder schlicht die fehlende Lust. Gottesdienst wird kritisch bewertet und je nach Laune und Verfassung konsumiert. Oder aber wird einem anderen Konsumentenerlebnis den Vorzug gegeben.
Kehren wir die Geschichte um und formulieren es positiv. Psalm 100 lässt uns hinter die Kulissen eines Gottesdienstbesuchers blicken, der gerne hingeht. „Jauchzt vor dem Herrn, alle Länder der Erde! Dient dem Herrn mit Freude! Kommt vor sein Antlitz mit Jubel! Erkennt: Der Herr allein ist Gott. Er hat uns geschaffen, wir sind sein Eigentum, sein Volk und die Herde seiner Weide. Tretet mit Dank durch seine Tore ein! Kommt mit Lobgesang in die Vorhöfe seines Tempels! Dankt ihm, preist seinen Namen! Denn der Herr ist gütig, ewig währt seine Huld, von Geschlecht zu Geschlecht seine Treue.“ Diese Person dankt, jauchzt, jubelt. Diese überreiche Freude hat nur einen Grund: Den Adressaten der Freude, nämlich den Herrn. Also lautet die Frage: Weshalb zieht mich die Freude nicht (mehr)?
Diese wichtige Frage, verbunden mit der Bitte um neue Kraft durch den Heiligen Geist, ist entscheidend für eine Änderung meiner Gesinnung und meiner Gewohnheiten. Allein Gott kann uns aus dem relativistischen Morast, in dem wir stecken, herausziehen. Es geht nicht um mich, sondern um ihn.