Höfliches Desinteresse

Es gibt Erfahrungen, die nur schwer in Worte zu packen sind. Ich versuche es unter der Überschrift „Höfliches Desinteresse“ dennoch zu tun. Der öffentliche Raum ist anonyme Zone. Jeder bleibt für sich alleine, obwohl oder gerade weil er unter vielen Menschen ist. Das fällt nicht weiter schwer, denn mit dem Handy ist schnell eine unverfängliche Distanzzone geschaffen. Schon fast argwöhnisch betrachten wir diejenigen, die in der Strassenbahn eine ungezwungene Unterhaltung beginnen. Werden wir angesprochen, fühlen wir uns beinahe belästigt. Ab und zu kommt es vor, dass gefrustete, alkoholisierte oder psychisch beeinträchtigte Menschen ihren Gedanken lauthals Luft machen an einem Ort, an dem viele zuhören müssen. Es scheint so, als ob sie diese Orte absichtlich wählen, um sich zu entlasten und um andere zu beschämen.

Wechseln wir den Schauplatz. Der in unserer Umgebung neu gebaute Spielplatz hat sich zu einem echten Magnet entwickelt. Es tummeln sich Eltern und Grosseltern mit ihren Sprösslingen. Ganze Krippen suchen den günstig gelegenen Platz am Waldrand auf, um die Kinder springen zu lassen und unter sich einen Schwatz halten zu können. Als Eltern mit langjähriger Spielplatzerfahrung fällt uns auf: Wenn wir auftauchen, gelingt es uns mühelos, uns ohne Begrüssung auf dem Gelände zu installieren. Wir lassen unsere Söhne längere Zeit spielen und rauschen nach unserem Gutdünken wieder ab. Wer grüsst, bekommt ein knappes „Hallo“ zurück. Keinen nimmt es wunder, wie man heisst. Die Kinder sind einfach da. Es wird höchstens Notiz von ihnen genommen, wenn sie andere in ihrem Spiel stören.  Die Kommunikation bleibt auf die eigene (Klein-)Familie beschränkt. Selbst die Kontakte und Gespräche sind – nimmt man sich einmal Zeit zum Zuhören – eher unverbindlich und lose.

An was mag das liegen? Kühl-distantes Interesse von Schweizern? Erschöpfte Beziehungsenergie? Mangelndes Interesse? Übermässige Ich-Bezogenheit? Wenn ich näher hinschaue, entdecke ich ähnliche Muster in der Kirche (siehe “Ich darf mich nicht einmischen”) und selbst in den Familien und Ehebeziehungen (siehe “Wenn sich die Ehepartner die Türklinken in die Hand geben”). Anders gelagerte Erfahrungen beschränken sich, Mann staunt, auf Ausländer (siehe “Bei den Reichen lernt man sparen, bei den Armen festen”). Was bleibt mir übrig? Dies weiterhin zu tun, was ich seit Jahren umsetze. Ich spreche von mir aus neue Leute an und interessiere mich für ihr Leben. Den Kontakt zu halten fällt mir selber schwer. An manchen Tagen bleibt nicht eben viel Energie übrig. Das merke ich dann, wenn ich abends auf dem Weg zum Kompost einem Nachbarn begegne.