Der vielköpfige Familienkreis, wie er in früheren Zeiten bestand, war für das Kind ein bedeutend besserer Lebensraum als die heutige Familie. Es hatte Gelegenheit, sich beim Umgang mit zahlreichen Geschwistern abzupolieren, und es gewöhnte sich von früh auf, Kameradschaft, Brüderlichkeit zu empfinden und auszuteilen, es entwickelte den Gemeinschaftssinn, das Gemeinschaftsgefühl. Es lernte von Kindsbeinen an, auf andere Rücksicht zu nehmen, mit andern zu spielen und – allmählich – zu arbeiten, und es hatte Einblick in den Arbeitsprozess seiner Eltern. Deren Liebe und Sorge entgingen dem die Erziehung gefährdenden Umstand, sich nur auf ein einziges Kind zu konzentrieren. Die Eltern waren genötigt, ihre die Nachkommenschaft betreffenden Gefühle auf viele Köpfe zu verteilen, so dass das Mass dessen, was einem einzelnen Kinde zuträglich ist, nicht überschritten wurde.
In den Familien unserer Zeit fehlen den Kindern oft die Gespanen, die ungefähr gleich alt sind, mit denen sie sich herumschlagen, auseinandersetzen können, und an die sie sich gegenseitig anpassen müssen. Es mangelt häufig an Spielgefährten, die Kinder gewöhnen sich ans Einsamsein. Sie haben keine Gelegenheit, zugunsten von Geschwistern auf dies und jenes verzichten zu lernen, oder mit ihnen zu teilen. Der Gemeinschaftssinn kann sich weniger natürlich und leicht entwickeln. Der Übergang vom Spiel zur Arbeit geschieht oft zu abrupt: das Kind kann nicht allmählich in den Arbeitsprozess der Eltern eingefügt werden; Arbeit und Arbeitsplatz der Eltern bleiben dem Kinde fremd… Die Arbeit, vom Kinde aus gesehen, hat weniger den Zweck etwas Wertvolles zu schaffen, das einen mit Stolz und Genugtuung erfüllt und an dem man inneren Anteil nimmt, als Geld zu verdienen; sie wird eher als Pflicht und Fron empfunden, denn als etwas, an dem man Freude hat, und das einen innerlich befriedigt.
Hans Zulliger. Gespräche über Erziehung. Verlag Hans Huber: Bern/Stuttgart 1960. (19-20)