Buchbesprechung: Eine Einführung zu Herman Bavinck sowie in das Thema Christ und Kultur

John Bolt. A Theological Analysis of Herman Bavinck’s Two Essays on the Imitatio Christi: Between Pietism and Modernism. Edward Mellen: New York 2013. 463 Seiten. Ab 150 Euro.

Wenn es einen Menschen in Nordamerika gibt, der über Herman Bavinck (1854-1921) Bescheid weiss, so ist es John Bolt. So schreibt David van Drunen, Systematiker am Westminster Theological Seminary, im Vorwort des kürzlich erschienenen Buches. Die 1982 verteidigte Dissertation wurde von Bolt überarbeitet herausgebracht. Bolt ist nicht nur Absolvent des Calvin College, sondern auch langjähriger Professor für Systematische Theologie an derselben Ausbildungsstätte. Eng mit den Christian Reformed Churches (CRC) verbunden, lehrt er an der „Brutstätte“ der Bavinck-Forschung. So publizierte Bolt im Calvin Theological Journal in den letzten 20 Jahren einige wichtige Aufsätze. Er ist zudem Editor der vierbändigen „Reformed Dogmatics“ (Baker 2008) sowie der einbändigen Kurzausgabe (Baker 2011), Bavincks Hauptwerk. Wer über Jahre eine Übersetzung redigiert und die einzelnen Kapitel mit sorgfältigen Zusammenfassungen versehen hat, darf mit Recht als „Experte“ angesehen werden. Bolt fungiert zudem als „Bindeglied“ der alten und neuen Bavinck-Forschung. Die ersten Dissertationen über die Theologie Bavincks erschienen vor fünfzig Jahren (Jan Veenhof, Rolf H. Bremmer, Eugene P. Heidemann). Seitdem einige Schriften Bavincks übersetzt sind, hat dies der Bavinck-Forschung Auftritt gegeben. Jüngst wurden drei Dissertationen an schottischen Universitäten geschrieben (James Eglinton, Brian Mattson, Tim Shaun Price). Bolt hat seinen Standpunkt zur Lesart Bavincks jüngst überdacht und klargestellt.

Um was geht es in diesem Buch? Bolt arbeitet die christologische Komponente der Nachfolge (imitatio Christi) als wichtigen, aber nicht einzigen Teil seines ethisch-kulturellen Ideals heraus. Dies grenzt ihn deutlich zu Abraham Kuyper ab, mit dem ihn zwar ein starker trinitarischer Fokus verbindet, der das Thema der Nachfolge jedoch nicht vertieft.

Wie ist das Buch aufgebaut? Nach einer fundierten Hinführung verfügt es über zwei „Hauptäste“. Kern dieser beiden Äste bilden die Kommentare zu den beiden Aufsätzen über die Nachfolge Christi. Darum herum sind verschiedene hilfreiche Kapitel über den theologischen, kulturellen und biographischen Hintergrund von Bavincks Werk gruppiert. Dies geschieht in einem sorgfältigen Vergleich zu Bavincks Weggefährten Abraham Kuyper (1837-1920) und der wesentlich von ihm mitgeprägten neo-calvinistischen Bewegung in den Niederlanden. Bavinck erhält seinen Platz als eigenständiger Denker an der Seite des Theologen, Journalisten und Staatsmannes.

Die Analyse Bolts unterstützt zwei wichtige Erkenntnisse für die Bavinck-Forschung: Dessen Gedankengut hat sich durch seine vierzigjährige Tätigkeit als Dogmatiker nicht wesentlich verändert. Bedeutend verlagert hat sich hingegen der Kontext. Zu Beginn seiner Berufslaufbahn stand der Aufbruch in seiner Herkunftsdenomination im Vordergrund.  Am Ende seines Lebens tobte der Erste Weltkrieg, während sich die eigene Bewegung etabliert hatte. Diese veränderte Ausgangslage verlangte einen stärkeren Fokus auf die hermeneutische Fragestellung, wie sich nämlich die Anwendung einer christlichen Ethik in einem modernen globalen Umfeld bewerkstelligen lässt. Zweitens wird die Frage, ob Bavinck ein Transformationalist war, überzeugend beantwortet. Sein Leben und Schaffen ist ein deutlicher Hinweis auf die Spannung zwischen der reformierten Frömmigkeit und der Kontextualisierung des Glaubens im modernen Leben, zwischen Jenseits- und Diesseitsorientierung. Haarscharf erkannte Bavinck die Gefahr, sich – wie er es nannte – „im Diesseits zu verlieren“ ebenso wie die Tendenz, sich in die Komfortzone des Studierzimmers zurück zu ziehen. Das Ideal der Imitatio Christi hält beide Stränge zusammen: Religiös gesehen ist die Einheit mit Christus („mystical union with Christ“) deren erster Sinn und Zweck; aus der ethischen Perspektive hingegen herrscht der Gedanke von Schöpfung und Gesetz vor (S. 115).

Einerseits zeigte mir diese Studie, wie sauber gearbeitet werden muss, um vom biblischen Text (z. B. der Bergpredigt) zu einer biblischen Theologie und zu einer Systematik zu gelangen. Insbesondere die Lehre der Trinität und die ausgewogene Berücksichtigung der drei Personen der Gottheit in Schöpfung und Neuschöpfung sind von grundlegender Bedeutung. In einem weiteren Schritt muss die Kirchen- und Dogmengeschichte abgeklopft werden, um verschiedene Akzentuierungen und Übertreibungen zu identifizieren. Erst von dort aus gelingt die Anwendung in ein wechselhaftes gesellschaftliches Umfeld. Bavinck war ein Meister seines Fachs, Bolt gelingt es ebenfalls im Facettenreichtum eine klare Linie zu behalten. Ob Bavinck biblisch-theologisch die Balance gänzlich gelungen ist, kann nicht abschliessend beurteilt werden. Meiner Meinung nach ist die Sichtweise des reifen Bavinck mit der Unterscheidung von passiven bzw. aktiven Tugenden der Kirche nicht ganz niet- und nagelfest. Dass einmal mehr auf der Seite der Weltzugewandheit und dann wieder auf der Seite der Abgrenzung Gegengewichte gesetzt werden müssen, leuchtet mir jedoch ein. Volle Zustimmung erhält zudem der Hinweis Bavincks, dass die Balance infolge der Sünde erst im zukünftigen Zeitalter richtig hergestellt werden kann.

Der stattliche Preis erlaubt es nur Bibliotheken, sich diesen Titel anzuschaffen. Ich bestellte mir den Band über Fernleihe. In den zwei Wochen Lesezeit schleppte ich es stets in der Tasche mit, so dass es nach vollendeter Lektüre schon fast zu mir gehörte. Wer sich einen Zugang zu Bavinck verschaffen und sich zudem in das theologisch gewichtige Thema Christ und Kultur vertiefen möchte, dem sei die Lektüre empfohlen. Im Anhang erscheinen die beiden Aufsätze Bavincks in englischer Übersetzung. Zudem ist die Literaturliste kein unnötiger Anhang, sondern öffnet die Tür zu einer Vielzahl weiterer Aufsätze und Bücher.