Kein Platz für Wahrheit: Eine Bestandesaufnahme des (spät)modernen Menschen

Davids Wells Buch “No Place For Truth” (1993) schlug vor 20 Jahren wie eine Bombe zumindest im konfessionellen Teil der Evangelikalen in den USA ein. Wells gelang es, die gesellschaftlichen Entwicklungen einzufangen und deren Einfluss auf die evangelikalen Gemeinden zu beschreiben (siehe S. 137-257). Ich habe versucht, die Kernargumente zusammen zu fassen. Es geht vor allem um den auf sich selbst fokussierten Menschen, der gleichzeitig in höchstem Grade vom Markt der Gefühle und Erwartungen abhängig ist:

Individualismus und Konformität gehen Hand in Hand

Individualismus und Konformitätsdruck scheinen sich auf den ersten Blick zu widersprechen. Wells begründet ausführlich in zwei Kapiteln, wie beide Merkmale Hand in Hand gehen. Seit der Aufklärung ist der Mensch nicht mehr zur Rechenschaft gegenüber dem Schöpfer, sondern sich selbst gegenüber verpflichtet. Die Moderne ging aber noch einen Schritt weiter: Sie trennte das Selbst von jeder bedeutsamen Verbindung nach aussen zu anderen Menschen ab und warf ihn damit auf sich selbst zurück. Die immanente Autorität des Selbst wird zum Beispiel daran deutlich, dass sie die Wichtigkeit einer Sache daran misst, ob sie sich gut anfühlt. Die Erfüllung des Selbst wird zum Schlüsselkriterium des Lebens. Eine Folge davon ist die Aufspaltung des Selbst (Innenperspektive) und des Image (Aussenperspektive). Das bedeutet, dass das Selbst um der Stimmigkeit nach aussen willen manipuliert werden darf.

Das entscheidende Argument, weshalb der Individualismus und der Bedarf konform zu gehen, sich die Hand geben, liefert Wells schon früh innerhalb seiner Erörterungen. Das auf das eigene Innere ausgerichtete Selbst wurde nämlich durch die äusseren Veränderungen von der Masse absorbiert. Dazu trugen verschiedene Entgrenzungen wie steigende Mobilität, erleichterte Scheidungen und zunehmende Anonymität innerhalb der sich ständig ausweitenden urbanen Zonen bei. Der selbstgeleitete Mensch (inner-directed) wird dadurch in höchstem Masse verletzlich. Er orientiert sich darum sklavisch an einer externen Autorität, nämlich dem Markt (other-directed). Er ist Konsument nicht nur von Material, sondern auch von Worten, Bildern und Beziehungen. Er ist nicht mehr der einsame Cowboy (Individualist), sondern der Narzisst, der sich ständig im Spiegel prüft, ob er den aktuellen Erwartungen des ihn umgebenden Marktes entspricht.  Ein hervorragendes Beispiel, welche die Selbstbezogenheit bei gleichzeitiger Entfremdung von aussen demonstriert, ist das Arbeitsverhalten. Nach modernem Leitsatz beginnt das Leben dann, wenn die Pflichten beendet sind und die Selbstverwirklichung beginnt, also am Feierabend, am Wochenende oder im Urlaub.

Fernsehen, das verbindende Medium

Der auf sich selbst fixierte und doch krampfhaft an anderen interessierte Mensch informiert sich via Fernsehen über seine Marktfähigkeit und –gängigkeit. Das Fernsehen stellt nämlich das einzige einheitliche Medium für gemeinsam interpretierte Erfahrungen  dar. Es transportiert ohne Unterbruch das Drama des modernen Menschen inklusive Gefühle und Bewertungen. Der passive Empfänger lässt die Signale auf sich einprasseln und sich als Konsument bestimmen.

So steht der Mensch der (Spät-)Moderne so selbstbestimmt und gleichzeitig verunsichert wie noch nie zuvor da. Er ist nur noch an dem interessiert, was dem anderen wichtig ist. Er ist gefüttert vom täglichen Drama des Fernsehens, das ihn praktisch ohne jegliche Argumentation, aber mit gefestigten Gefühlsschablonen zurücklässt. Er ist es sich gewöhnt, seinem eigenen Instinkt zu folgen. Er weiss um das unwirtliche Gelände der Moderne, die Anonymität und die Entfremdung und sucht nach der Erfüllung in der Entdeckung des eigenen Selbst.

In der Kirche: Leicht verdauliche therapeutische Happen

Leider bildet der Evangelikalismus ein Abbild dieser Entwicklung: Objektive Zuverlässigkeit wurde nämlich zur das subjektive Gefühl ersetzt. Das widerspiegelt sich zum Beispiel an den Liedern, die gesungen werden. Die „Message“ besteht aus leicht verdaulichen therapeutischen Happen. Der Pastor steht in der Pflicht als Manager und Therapeut viel eher als Verkündiger von Gottes Wort. Die Psychologisierung des Lebens hat auch die Kirche voll erfasst. Denken ist tabu, der Gottesdienstbesucher ist eher einem Voyeur zu vergleichen, der durch Umstände und nicht Überzeugungen geleitet wird. Was er erwartet ist Anleitung in der Interpretation der inneren Erfahrung statt der Wahrheit bzw. Theologie.

Dadurch verändert sich wie schon angetönt das Pflichtenheft des Pastors. Ein neues Modell des pastoralen Dienstes hat sich etabliert. Weil er von der Gesellschaft an den Rand gedrängt wurde – Manager und Therapeuten haben seine Aufgaben übernommen -, reagiert er durch eine zunehmende Professionalisierung. In einer unbeständigen Umgebung muss er sich spezialisieren, um marktfähig zu bleiben. Selbstverständlich muss er sich jede Menge an verwaltungstechnischen Fähigkeiten aneignen. Die Ausbildungsstätten wurden ebenfalls modernisiert. Theologische Inhalte sind die Peripherie verfrachtet worden. Es zieht nur noch das, was verwertbar und praktisch ist. Damit einher geht eine Fragmentierung der einzelnen Fächer. Erfolgreich ist der, welcher eine gute Dienstleistung und vor allem passende Gefühle vermittelt. Ein Nebeneffekt ist der häufige Wechsel (Wegbeförderung) der Pastoren an neue Orte und menschenzentrierte Predigten.