John Piper. Think. Crossway: Wheaton, 2010. 192 Seiten. Kostenloser Download.
In den USA gibt es bereits eine ganze Auswahl von Büchern, die sich mit dem evangelikalen Anti-Intellektualismus auseinandersetzen (ganz im Gegensatz zum deutschen Sprachraum, wo mir keine vergleichbare Veröffentlichung bekannt wäre). John Piper ist sich dieser Ausgangslage wohl bewusst und grenzt seine Publikation gegenüber Mark Noll und Os Guiness mit dem Hinweis ab, dass er weniger historisch bzw. pointiert schreibe (16). Um was geht es ihm? Piper zeigt auf, dass unser Denken ein Mittel ist, um Gott und Menschen zu lieben (15). „Ich ermutige Sie zu denken und gleichzeitig nicht davon beindruckt zu sein, wenn Sie es tun.“ (17) Wer stolz ist, liebt nämlich Menschen nicht (20). Gott mit dem Verstand zu lieben bedeutet, die Fülle des von Gott geschenkten Reichtums wahrzunehmen und auszudrücken.
Im persönlichen Rückblick gibt Piper zu, dass er selbst in einem ständigen Spannungsfeld zwischen Denken, Fühlen und Handeln lebt. Betendes Nachdenken über die Reichtümer Christi bildet den Nachschub für sein Predigen (27). Denken hat im Bewusstsein zu geschehen, dass suchendes Überlegen Hand in Hand mit gottgeschenkter Einsicht geht (31). Piper versteht das Denken als Teil davon im Ebenbild des dreieinen Gottes geschaffen zu sein. Diese Einsicht führt er auf den Mann, der ihn am meisten beeinflusst hatte, zurück: Jonathan Edwards (1703-1758). „Der Verstand dient dazu die Wahrheit zu erkennen, welche das Feuer des Herzens entzündet.“ (36) Ich schätze Piper dafür, dass er transparent über seine Quellen spricht – dies mit einer Begeisterung, die auch im Geschriebenen durchdrückt. Piper wird nicht müde zu betonen, dass der biblische Begriff „Herz“ das Zentrum von Willen und Gefühlsleben umfasst, einschliesslich des Denkens (85).
Eine wichtige Art zu denken geschieht durch Lesen. Wir gehen davon aus, dass Spass kosten- bzw. mühelos sein muss. Piper macht deutlich, dass Freude am Lesen mit anstrengenden und zuweilen frustrierenden Denkprozessen zusammenhängt (47). Lesen hat damit zu tun, sich Inhalte durch gutes Fragen an den Text zu erschliessen (55).
Piper geht ausführlich auf das denkende Erkennen des Evangeliums ein. Das ist angesichts der dominanten Idee unter Evangelikalen, die Präsentation der guten Botschaft vor allem mit Gefühlen zu verbinden, unabdingbar. Die Bibel äussert sich klar zum Denken, das nicht durch den Heiligen Geist erleuchtet wurde. Es geht um das böse Herz (Mt 16,4), einen verhärteten Verstand (2Kor 3,14), zerrüttete Sinne (1Tim 6,5), unterdrückte Wahrheit (Röm 1,18) und die durch Ungerechtigkeit eingeschränkte Fähigkeit zu denken (2Tim 3,8). Von Paulus wird zehnmal in der Apostelgeschichte vermerkt, dass er mit seinen Gesprächspartner debattierte (engl. „reasoned“). Ein verstandesmässiges Erfassen des Evangeliums ist unumgänglich! „Der Grund des rettenden Glaubens ist die Herrlichkeit Christi, die im Evangelium gesehen wird“ (74). Die verstandesmässige Präsentation und Aufnahme des Evangeliums, mit der Arbeit des Verstandes verbunden, ist der von Gott vorgesehene Weg (76). Wem Gott die Augen des Herzens geöffnet hat, der ist nicht länger Sklave seiner trügerischen Begierden. Christus wird ihm zu grössten Schatz.
Ein für mich unvergessliches Kapitel ist das über die Begegnung von Jesus mit Relativisten. Es handelt sich dabei nicht um religionsferne Menschen, sondern um die Gesetzeskenner (Mt 21,23-27). Auf diese Weise habe ich diesen Abschnitt noch nie gesehen. Die Gesetzesgelehrten sind es sich gewohnt sorgfältige Überlegungen anzustellen. Doch weshalb? Weil es um die Wahrheit als objektiven Standard geht? Nein! Es geht ihnen nur um ihr Ego und um ihre Haut. Sie wollen nicht beschämt und belästigt werden (101). „Die Saat des Relativismus ist das tiefe, sündige menschliche Begehren nicht von Gott oder von einem Standard regiert zu werden, welche Gottes Autorität beansprucht.“ (102) Was für eine Botschaft in der heutigen Zeit! Hinter den intellektuellen Vorwänden steckt doch stets ein widerspenstiges Herz!
Piper legt im nächsten Kapitel gleich nach und zeigt auf, weshalb der Relativismus unmoralisch ist: Er rebelliert gegen die objektive, von Gott geschaffene Realität. Zudem bringt er einen doppelten Standard hervor. Menschen sagen das eine, handeln in ihrem Leben nach einem anderen Massstab. Lehrmässige Defekte können gut versteckt werden, ebenso wie selbstsüchtige Wünsche. Stolz verbirgt sich unter dem Deckmantel der Bescheidenheit. Das Tragische dabei ist, dass unter dem Nebel des Relativismus Menschen in ihrer Sünde gefangen bleiben.
Piper beschäftigt sich dann mit einem weiteren Top-Thema, nämlich den unseligen anti-intellektuellen Impulsen, welche die Geschichte des Evangelikalismus begleiten. In drei Kapiteln geht er näher auf biblische Einwände ein, welche die Wichtigkeit des Denkens um Gott zu erkennen, zu untergraben scheinen. Menschliche Gedankengebäude müssen eingerissen werden (2Kor 10,4-5); das Denken versperrt den Blick auf die Herrlichkeit Christi (2Kor 4,4); Jesus wählte sich ungelernte Leute aus (Apg 4,13). Für die beiden gewichtigsten Einwände nimmt er sich Raum. Lk 10,21 spricht von Dingen, die Gott vor Weisen verborgen, während er sie Unmündigen offenbart hat. Eine sorgfältige Analyse des Kontexts geschieht anhand der Frage: Was wird genau verborgen? Und was wird offenbart? Die zweite Stelle betrifft 1Kor 1,20 und die „Weisheit dieser Welt“. Auch hier gibt es zwei Schlüsselfragen: Welche Weisheit? Welche weisen Personen? Das (vorhersehbare) Fazit Pipers: Beide Stellen sind keine Warnungen gegen sorgfältiges, rigoroses Denken an sich (154).
Die wichtige Frage lautet deshalb: Wie finden wir einen demütigen Weg, um zu denken? Auch hier schöpft Piper in einer pastoralen Art und Weise aus dem Neuen Testament, und zwar aus 1Kor 8,1-3; Römer 10,1-4 sowie Kolosser 1,16-17. Er streicht heraus, dass wahre Erkenntnis darauf abzielt Gott und Menschen zu lieben. Diese Botschaft verpackt er im Schlusskapitel in die Form eines Aufrufs. Denjenigen, die nicht gerne denken, ruft er zu: Seid dankbar für die Denker, respektiert ihren Dienst. Besonders dankbar bin ich für diesen Rat: Betet für verletzliche Denker. Und vor allem lest eure Bibel sorgfältig und mit Freude – auch als Nicht-Denker. Die Denkenden selbst (welche wohl eher zur Leserschaft zählen) erinnert Piper daran, das Ziel von Gottes Herrlichkeit nicht aus den Augen zu verlieren und ihr Denken demütig Gott zu unterstellen. Denn: Wir denken, und Gott schenkt Verständnis. Was für ein passender Schluss!