Wer Albert Mohlers Blog (und Rundfunkarbeit) kennt, weiss um sein unermüdliches Bemühen, aktuelle Geschehnisse v. a. in den USA aus biblischer Weltsicht zu bewerten und ihnen einen Rahmen zu geben. Tim Challies, kanadischer Blogger und Buchrezensent, schrieb anlässlich der Erstausgabe von 2008: Er sei erstaunt, dass dieses Buch Mohlers Erstlingswerk darstelle. Entsprechend gespannt war ich denn auch, das Buch zu lesen. Nach den ersten zehn Kapiteln liess meine Aufmerksamkeit etwas nach, als ich bemerkte, dass es sich um eine Kollektion von einzelnen Artikeln handeln muss. Trotzdem las ich das Buch zügig zu Ende.
Im Vorwort schreibt Mohler: Wir sind wie Fische im Wasser, die nicht wissen, dass sie nass sind. Wir Christen sind uns kaum bewusst, in welch komplexen und sich fundamental wandelnden Kontext wir leben. Diese Stelle unterstrich ich beim Lesen dick. Eskapismus (Flucht) ist uns unmöglich. Wir können dem Wasser nicht entrinnen, das Gott uns als Lebensraum zugeteilt hat. Im Gegenteil: Mohler erinnert uns gleich an unsere Mission in dieser Welt. Das Kernargument empfand ich im ersten Moment als fast zu simpel. Wir müssen unsere Zeit kennen, um treue Zeugen für das Evangelium sein zu können. Unsere Beteiligung am öffentlichen Leben – worin er die Politik ohne weitere Argumentation mit einschliesst – leitet er aus dem doppelten Liebesgebot in Matthäus 22,37-40 her. Gleich im ersten Kapitel nimmt Mohler Bezug auf Augustins Werk „Der Gottesstaat“. Das monumentale geschichtsphilosophische Werk entstand in einer Zeit eines fundamentalen und komplexen Umbruchs, unserem ähnlich. Augustinus beschrieb Herkunft und Entwicklung von zwei Städten, der Stadt Gottes und der Stadt des Menschen. Die eine hat einen ewigen und endgültigen Bezug, die andere einen vorläufigen und vergänglichen. Das bedeutet jedoch nicht, dass letztere unwichtig wäre. (Diese sehr knapp formulierte Anleihe an Augustinus fand ich denn unbefriedigend.)
Mohler startet mit einer Charakterisierung des Säkularismus und portraitiert dazu drei US-amerikanische Denker aus Philosophie und Rechtwissenschaft. Die religiöse Freiheit darf nach ihnen nur solange gelten, wie sie nicht in Konflikt zum säkularen Staat gerät. Der öffentliche Raum inklusive der Rechtsprechung unterliegt also dem Diktum des Säkularismus. Dass der säkulare Staat aber in sich eine Unmöglichkeit darstellt, sucht Mohler an zwei Beispielen zu demonstrieren: Welche Kriterien soll er in Bezug auf den Anfang des Lebens setzen? Oder auf welche Ordnung soll er zurückgreifen, wenn er die Unrechtmässigkeit eines Mordes behaupten will? Jeder Staat wird sich zwangsweise auf eine Ethik beziehen müssen. Mohler fordert darum nicht nur die Redefreiheit aller Bürger inklusive der Christen, sondern ebenso die Deklarationspflicht für die Herkunft der eigenen Überzeugungen. Diesbezüglich herrscht in der Öffentlichkeit ein grosses Durcheinander, die sich in zwei Bereichen zeigt: Einerseits werden alle religiösen Symbole (wie das Kreuz oder die Bibel) schrittweise aus der Öffentlichkeit verbannt. Zweitens herrscht eine „Kultur des Beleidigtseins“ (offendedness). Damit sich jemand nicht emotional gestört fühlt, wird der öffentliche Diskurs vorbeugend eingeschränkt. Eine pluralistische Gesellschaft zeichnet sich jedoch gerade dadurch aus, dass unterschiedliche Meinungen zugelassen werden. Für Christen gehört es zum Alltag, dass ihr Glaube abgewertet, womit auch ihre Gefühle betroffen sind. Ich pflichte Mohler bei: Wir Christen dürfen auf keinen Fall auf solche Empfindlichkeiten einsteigen und uns beleidigt zeigen!
Nach diesem einführenden Teil über den Diskurs in der säkularen Gesellschaft spricht Mohler eine breite Palette aktueller Fragestellungen an. Das zunehmend zentralisierte und bürokratische Schulwesen schreibt über die Bildungspläne ethische Inhalte wie z. B. alternative Familienformen vor. Eltern entdecken die Bildung als primäres Kampffeld von Ideologien. Im Bereich der Erziehung fällt auf, dass den Kindern zunehmend die zu einem gesunden Erwachsenwerden nötigen Hindernisse aus dem Weg geräumt werden. Es wachsen Generationen von unreifen 18-Jährigen heran, die ins harte Erwachsenen- und Berufsleben hineingeworfen werden. Die Folge davon ist eine Vielzahl psychologischer Dysfunktionen. Mohler beschäftigt sich mit dem Materialismus. Wissenschaftler behaupten die Entdeckung eines „Gottesgens“, und neue Atheisten mokieren sich über Theologen , die eine (nicht-existierende) schwarze Katze in einem dunklen Raum suchen. So wie sich Mohler der Thematik der Würde des Einzelnen, besonders des Ungeborenen annimmt, so beschäftigt er sich auch mit Unwetterkatastrophen, Terroranschlägen und der Islamisierung. Besonders eindrücklich ist das Beispiel der aufstrebenden menschlichen „Reproduktionsindustrie“. Wie sollen menschliche Bindungen und Beziehungen beschrieben werden, wenn ein von einem fremden Mann befruchtetes fremdes Ei in einer Leihmutter ausgetragen und Zwillinge im Abstand von fünf Tagen geboren werden? Ebenso nachdenklich stimmte mich das Kapitel über den Einfluss der sozialen Medien auf die Bevölkerung. Obwohl ich mich schon oft damit beschäftigt habe, machte mich Mohlers Beschreibung betroffen: Das ständige Bombardement mit Informationen zerstückelt unseren Alltag und gleichzeitig unsere Aufmerksamkeit. Sie raubt uns die Zeit für wirkliche Begegnungen.
Das Buch liest sich flüssig. Es eignet sich als Lektüre für eine Zugreise mit mittlerer Lärmbelästigung. Dass Mohler ausschliesslich aus US-amerikanischer Warte argumentiert, mag zuweilen etwas Distanz zum europäischen Leser aufkommen lassen. Doch die Themen sind auch für uns Kontinentaleuropäer von Belang! Leider kenne ich auf Anhieb kaum Menschen vom Kaliber Mohlers, die regelmässig die Ereignisse kompetent und verständlich aufgreifen und bewerten können und gleichzeitig in der säkularen Welt Beachtung finden. Noch viel wichtiger als die Frage, wie sich das Buch liest, ist allerdings die Frage: Wäre ich selbst in der Lage, zu jedem dieser Themenbereiche auf demütige Art Rechenschaft abzulegen für meinen Glauben? Durch den gesellschaftlichen Wandel und das damit verbundene Vakuum ergeben sich immer wieder Anknüpfungspunkte für die Botschaft der Botschaften. Das Evangelium mit den Fragen unserer Zeit zu verbinden, darin besteht der Auftrag von Fischen, die sich nicht nur des sie umgebenden Elements bewusst sind, sondern sich unabhängig von Strömungen zu bewegen wissen.