Francis A. Schaeffer. Geistliches Leben – was ist das? R. Brockhaus Verlag: Wuppertal/Genf, 1975. 184 Seiten. (vergriffen, aktuelle Angebote um 50 Euro)
Seit ich damit begonnen habe, Buchbesprechungen zu schreiben, war dieses Buch auf meiner inneren Liste. Ich habe es vor einigen Jahren gelesen. Immer wieder greife ich in Familienandachten und Predigten auf einzelne Ausschnitte zurück. „Die grundlegende Frage dieses Buches lautet: Was ist geistliches Leben – wahres geistliches Leben – und wie kann man es im Milieu des 20. Jahrhunderts verwirklichen?“ (9)
Die Vorgeschichte: Eine geistliche Krise
Francis Schaeffer bezeichnete das Mitte der 1970er-Jahre erschienene Buch als sein wichtigstes . Es ist unabdingbar, etwas über die Entstehungsgeschichte zu wissen. Schaeffer schreibt darüber im Vorwort: „In den Jahren 1951 und 1952 musste ich eine geistliche Krise in meinem Leben durchstehen. … ich sagte meiner Frau Edith, dass ich um der Ehrlichkeit willen bis zum meinem Agnostizismus zurückgehen und die ganze Sache noch einmal durchdenken müsste. Dies war für sie eine schwere Zeit, und ich bin sicher, dass sie viel für mich betete. Bei schönem Wetter wanderte ich durch die Berglandschaft, und wenn es regnete, ging ich auf dem Heuboden des alten Chalets, in dem wir damals wohnten, hin und her. Beim Gehen betete ich, durchdachte die Lehre der Bibel und überprüfte noch einmal die Gründe, die mich dazu geführt hatten, Christ zu werden.“ Was war das Ergebnis des Ringens? „Während meiner gesamten theologischen Ausbildung hatte ich nur wenig über das erfahren, was die Bibel über die Bedeutung des vollendeten Werkes Christi für unser jetziges Leben zu sagen hat. Als mir diese Bedeutung nun aufging, kam allmählich die Sonne wieder hinter den Wolken hervor, und etwas in mir begann zu singen. Interessanterweise konnte ich in jener Zeit der Freude wieder dichten…“ Vorerst entstanden Bibelfreizeiten auf Papierfetzen. Spätere Vorträge wurden auf Tonbändern aufgenommen. Zahllose Menschen mit geistlichen und – man höre – psychischen Nöten wurden durch die Botschaften verändert. Es ist höchste Zeit dieses Buch wieder hervorzuholen. Es spricht auch in unsere Zeit hinein.
Der Ausgangspunkt: Das 10. Gebot
Wo beginnt Schaeffer inhaltlich? Er startet mit dem Gesetz und dem Liebesgebot! Der Hintergrund: In den Gesprächsabenden in L’abri hatte er die Erfahrung gemacht, dass junge Leute mit christlichem Hintergrund gerne mit Verbotskatalogen arbeiteten, an der wahre Geistlichkeit erkannt werden konnte. Schaeffer setzt einen Kontrapunkt, indem er auf das 10. Gebot hinweist: ‚Du sollst nicht begehren‘. „Nun geht es allerdings beim christlichen Leben letztlich gar nicht um äusserliche, sondern um innere Dinge. … Es ist aufschlussreich, dass dies das letzte der Zehn Gebote Gottes ist, also gewissermassen der Abschlussstein. Am Ende gelangen wir zu einer inneren Haltung und nicht nur zu äusserlichem Verhalten. Ja, tatsächlich übertreten wir dieses letzte Gebot, das Gebot nicht zu begehren, bevor wir irgendeines der anderen übertreten.“ (13) Geistliches Leben erweist sich also zuerst in einer inneren Haltung. Und, so fährt Schaeffer fort, es ist eine „positive innere Wirklichkeit, die äusserliche Folgen hat.“ (22)
Sechs Wahrheiten, die ich für mein eigenes geistliches Leben mitgenommen habe
Für einen inhaltlichen Einblick gehe ich zu sechs verschiedenen Abschnitten, auf die ich regelmässig zurückgreife. (Eine detaillierte inhaltliche Abhandlung gibt William Edgar in seinem Buch “Schaeffer on the Christian Life”.)
- Der unterbelichtete Zusammenhang zwischen dem Werk Christi und unserem Leben
- Die Bedeutung, mit Christus gestorben zu sein
- Die Auswirkung, als Auferstandene für Christus zu leben
- Die Haltung der aktiven Passivität
- Der zentrale Schauplatz unseres Kampfes, nämlich unsere Gedanken
- Die Frage der Heilung: Substanzielle Heilung
1. Was ist die Bedeutung des Werkes Christi für uns heute?
Die traditionelle orthodoxe Linie der Reformation habe die bewusste Seite des christlichen Lebens nicht ausreichend betont. Als Auswirkung davon ortet Schaeffer fünf Spielarten der Unwissenheit (88f).
- Man hat jemandem gesagt, wie jemand gerechtfertigt wird, aber nicht, welche Bedeutung dies für die Gegenwart hat.
- Man liess jemanden im Glauben, er müsse, nachdem er Christ geworden sei, das christliche Leben aus eigener Kraft führen.
- Wenn jemand Christ geworden ist, ist es gleichgültig, wie er lebt.
- Ein Christ wird schon in diesem Leben vollkommen werden.
- Es wurde nicht aufgezeigt, dass es eine Wirklichkeit des Glaubens gibt, nach der bewusst gehandelt werden soll.
2. Die harte Worte: Als Christ sind wir der Welt gestorben
Paulus schreibt davon, dass wir mit Christus begraben sind (Römer 6,4) und unser alter Mensch mitgekreuzigt worden ist (Römer 6,6; Galater 2,20). Durch ihn sind “mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt.” (Galater 6,14) Das sind harte Aussagen. Schaeffer schreibt dazu (S. 24-25; Hervorhebungen von mir):
Das Wort Gottes lässt … keinen Zweifel daran aufkommen, dass wir in allen Umständen – auch in schweren Lagen – zufrieden sein und Gott danken sollen. Dies ist eine wirkliche Negation: Wir sollen der Herrschaft der Dinge und unseres Ichs unser ‘Nein’ entgegensetzen. … Gefordert wird eine klare Absage. Wir müssen bereit sein, uns selbst zu verleugnen und auf gewisse Dinge zu verzichten, damit das Gebot, Gott und Menschen zu lieben, wirkliche Bedeutung erlangt. … Nun muss an dieser Stelle jeder, der ehrlich mitdenkt, zugeben, dass die Forderung der Heiligen Schrift als harte Zumutung erscheint. Wenn wir von der normalen Lebensanschauung des Menschen geprägt sind und uns dann aufrichtig diesen Forderungen der Bibel stellen, bleiben uns nur zwei Möglichkeiten: Wir müssen sie entweder romantisieren und behaupten, diese Aussagen sollten uns nur ein gutes Gefühl vermitteln, und eines Tages, irgendwann einmal – bei der zukünftigen Herrschaft Christi oder im ewigen Himmel – würden sie praktische Bedeutung erlangen. Oder (wenn wir diese Worte so annehmen, wie sie die Bibel sagt) wir müssen das Gefühl haben, vor einer unüberwindlichen Mauer zu stehen. … Wenn wir von einer Mentalität umgeben sind, in der alles an der Grösse und am Erfolg gemessen wird, und dann plötzlich gesagt bekommen, zum christlichen Leben gehöre dieser starke negative Aspekt des Verzichts und der Selbstverleugnung, dann muss uns das hart erscheinen, sonst haben wir es noch nicht in seiner Tragweite erfasst.
3. Die befreiende Perspektive: Wie Tote, die ins Leben zurückkommen
Daran schliesst sich eine nächste Tatsache an: Wir kommen als Auferstandene ins Leben zurück. „So sollt auch ihr euch als solche ansehen, die für die Sünde tot sind, aber für Gott leben in Christus Jesus, unserem Herrn.” (Römer 6,11) Schaeffer bemerkt (46-47):
Wir sollen also aufgrund unseres Glaubens jetzt schon so leben, als seien wir allem gestorben, damit wir eine lebendige Beziehung zu Gott haben. … Wann soll das geschehen? Jetzt, in diesem Augenblick! … Wir sollen in unserem Denken und Tun jetzt so leben, als seien wir schon gestorben, im Himmel gewesen und als Auferstandene wieder zurückgekommen. … Was kann die Anerkennung der Welt einem Menschen bedeuten, der in der Gegenwart Gottes gewesen war? Was hat die Welt gegenüber den Schätzen des Reiches Gottes noch an Reichtümern zu bieten? Der Mensch strebt nach Macht, aber welche Bedeutung hat irdische Macht noch, wann man die Wirklichkeit des Himmels und die Macht Gottes gesehen hat? … Nun kann echtes geistliches Leben im biblischen Sinn entstehen. Verworfen, getötet, auferweckt: Nun sind wir bereit, in dieser Welt, in Raum und Zeit, gebraucht zu werden. Mehr noch: Nun können wir uns an dieser Welt als Geschöpfe freuen, weil auch die Welt von Gott geschaffen ist. Wir können uns daran freuen, auch wenn wir sie realistisch so sehen, wie sie seit dem Sündenfall nun einmal ist.
4. Aktive Passivität: Moment für Moment die leeren Hände ausstrecken
Immer wieder ins Gedächtnis rufe ich mir die „existenzielle Jüngerschaft“ (so meine Bezeichnung). Schaeffer beschreibt das so (90-91; 101):
Heiligung geschieht, wie auch das Leben, Augenblick für Augenblick. Der Glaube von heute Morgen reicht nicht für heute Mittag. Das ist die Praxis der ‚aktiven Passivität‘. Das ist die einzig mögliche Art zu leben; niemand kann anders als Augenblick für Augenblick leben. Maria ist dafür ein Beispiel: Nach der Ankündigung, dass sie den Messias gebären werde, antwortete sie: ‚Mir geschehe nach deinem Wort!‘ (Lukas 1,38)
Nicht wir überwinden aus eigener Kraft die Welt. Wir haben kein Kraftwerk in uns, das die Welt überwinden kann. Das Überwinden geschieht durch das Werk des Herrn Jesus Christus… Sieg, praktischen Sieg, kann es dann geben, wenn wir die leeren Hände des Glaubens Augenblick für Augenblick ausstrecken, um die Gabe in Empfang zu nehmen: ‘Das ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.’ Gott hat versprochen, dass es eine Möglichkeit gibt, der Versuchung zu widerstehen; so steht es in der Bibel. Durch Gottes Gnade sollten wir auch widerstehen wollen.
5. Der wichtigste Schauplatz: Der wirkliche Kampf findet im Denken statt.
Das geistliche Leben des Christen ist in seinem Denken verankert. Der wirkliche Kampf um Menschen spielt sich deshalb in der Welt der Gedanken und Vorstellungen ab „und nicht in einem äusseren Bereich.“
Es ist sinnlos, über die Liebe zu Gott zu reden, wenn wir dabei nicht begreifen, dass sie sich in der inneren Welt unserer Gedanken ereignet. Wirkliche persönliche Gemeinschaft bleibt nie äusserlich. Sie verbindet immer das Zentrum einer Person mit dem einer anderen. Das gilt z. B. für die Ehebeziehung: Wenn man nur körperlichen Kontakt hat, hat man noch keine Gemeinschaft auf einer persönlichen Ebene. Der Kontakt muss sich vielmehr bis ins Zentrum der Person erstrecken. (124-125)
6. Substanzielle Heilung
Im 10. Kapitel geht Schaeffer auf den Einfluss des geistlichen Lebens auf psychische Probleme ein. „Seit dem Sündenfall gibt es keine Person, die körperlich wirklich gesund oder psychisch vollkommen ausgeglichen ist. Infolge des Sündenfalls sind wir als Einheit und in allen unseren Teilen entstellt.“ (133) Eine zentrale Frage lautet: Wie weit können wir psychisch und physisch in diesem gegenwärtigen Leben wiederhergestellt werden? Schaeffer hat dazu den hilfreichen Begriff der „substanziellen Heilung“ geprägt.
Aufgrund des vollkommenen Werkes Christi wird bei der Auferstehung des Leibes der Mensch psychisch und physisch vollkommen sein. Diese psychologische Spaltung kann aber schon jetzt, in diesem Leben, substantiell überwunden werden. Es ist keine vollkommene, aber eine wirkliche und substantielle Überwindung. Die Heilung kann und muss wesensmässig sichtbar sein, wenn sie auch noch nicht in diesem Leben vollkommen ist. … Gott kann und wird immer wieder umfassende Heilung schenken, aber er tut es nicht immer. Selbst wenn Gott jemanden von einer bestimmten Krankheit völlig heilt, muss das nicht heissen, dass der Betreffende dann in jeder Hinsicht vollkommen gesund ist.
Der Abschluss
Verändertes Denken führt zu verändertem Handeln. In den letzten Kapiteln geht es um Heilung in persönlichen Beziehungen und in der Gemeinde. „Wenn ich anerkenne, dass ich wirklich nicht Gott bin und dass wir seit dem Fall alle sündig sind, kann ich wirkliche menschliche Beziehungen eingehen, ohne mich selbst völlig aufzureiben, weil sie nicht vollkommen und in sich nicht genug sind.“ (155) „Wenn ich einen Menschen wirklich liebe wie mich selbst, werde ich danach verlangen, dass er ist, was er aufgrund des Werkes Christi sein könnte…“ (157) „Wenn ich in einer wirklichen Beziehung zum dreieinigen Gott lebe, werden meine Beziehungen zu anderen Menschen in gewisser Weise wichtiger, weil ich dann den wirklichen Wert des Menschen sehe, zugleich aber auch wieder unwichtiger, weil ich in diesen Beziehungen nicht mehr Gott sein muss. Nun kann ich zu einem Menschen hingehen und ihm sagen, dass es mir leid tut was ich ihm angetan habe, ohne damit den Integrationspunkt meines Universums zu zerschlagen, weil nicht mehr ich dieser Punkt bin, sondern Gott.“ (162) Dem habe ich nichts mehr anzufügen.