Buchbesprechung (II): Der religiöse Pluralismus im frommen Lager

D. A. Carson. The Gagging of God: Christianity Confronts Pluralism. IVP: Downers Grove, 2002. 640 Seiten. Euro 12,65 (Kindle-Version).

Hier geht es zum ersten Teil der Buchbesprechung.

Kapitel 8 fasst den zweiten Teil des Buches zusammen, in dem Carson den religiösen Pluralismus aus biblischer Weltsicht begutachtet hatte. Kein Wunder, dass nach dem Verschwinden des Wahrheitsbegriffes und der damit zusammenhängenden Weltsicht Abhandlungen zu zahllosen Einzelthemen nötig wurden! Carson hält fest: Menschliches Wissen bleibt unvollständig; doch deswegen muss es nicht unwahr sein (348). Die Wahrheit des Evangeliums ist Gottes Kraft. Also gilt es, dieses mit Nachdruck zu verkündigen (358) und der falschen Lehre entgegen zu treten. Wie wären Galater 1,8+9, Hebr 2,1-2 und 1Joh 2,22 als Aussagen möglich gewesen, wenn es keine Trennlinie zwischen wahr und falsch gegeben hätte? Und wer kann angesichts einer Theologie schweigen, die den Sündenfall, das Sühneopfer des göttlich-menschlichen Erlösers und die physische Auferstehung Jesu leugnet?

Der dritte Teil (Kapitel 9+10) versucht die Auswirkungen des Pluralismus auf die Gesellschaft zu beschreiben. Es ging mir als Leser so, wie wenn ich ein Hochhaus bestiegen und von dort einen Blick über eine grosse Stadt erhalten hätte. Carson wirft einen Blick auf ganz verschiedene Bereiche. Der Pluralismus betrifft die Regierung etwa dann, wenn es um die Frage geht, ob das dominante christliche Erbe immer noch ein gemeinsamer Nenner ist oder es wirklich nur noch um Wählergunst und Mehrheitsmeinung geht. Auch die Religionsfreiheit ist eng verknüpft mit der Frage nach der letzten Autorität. Der steigende Einfluss des Staates auf moralische Fragestellungen (Leben und Tod, Familie) ist in diesem Zusammenhang zu hinterfragen. In der Rechtsprechung beschäftigen die Konsequenzen, wenn eine letzte absolute Instanz fehlt. Gibt es dann noch eine letzte Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Gut und Böse? Carson betrachtet mit Sorge einerseits den immensen Einfluss der Gerichte, andererseits den vielseitigen Druck einzelner Gruppen und Partikularinteressen auf die Gerichtsentscheide. Auch in der Bildung stellt sich die Frage: Wenn Esoteriker neben Juden, Christen, Muslimen, Satanisten, Atheisten und Säkularisten in der gleichen Schulbank sitzen, welche Werte werden vermittelt? Geht es um den kleinsten gemeinsamen Nenner? Soll jeder seine eigenen Werte erkunden und finden dürfen? Wie ist darauf zu reagieren, wenn die Vermittlung von inhaltlichen Kompetenzen ständig zurückgeht, während anderen Fähigkeiten wie beispielsweise der Gruppenkompetenz immer mehr Raum gelassen wird? Auch die Wirtschaft ist stark von der Ideologie und Weltsicht bestimmt. Ihre Modelle sind von Werten und Moral beeinflusst. Es geht um Machtverhältnisse innerhalb einer unüberschaubaren Bürokratie.

Wer sich mit diesen Sachthemen auseinandersetzt, tendiert dazu vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr zu sehen. Im Tagesgeschäft geht die Vision unter. Was sind die biblischen Eckpunkte für den Entwurf dieser Vision? Vorab, so betont Carson, geht es darum, den Blick auf die ultimative Lösung, nämlich die Wiederkunft Christi, nicht zu verlieren. Auch wenn die Demokratie als Regierungsform durchgesetzt hat, kann sie für den Christen nicht das letzte Gut bedeuten (414). Ein Mehrheitsbeschluss kann nämlich sehr schnell in eine andere, der christlichen Wahrheit entgegen stehende Richtung führen! Es fragt sich, ob und wie sich Christen öffentlich positionieren bzw. Gehör verschaffen sollen. Christen müssen immer wieder auf den wahren Charakter von Toleranz hinweisen. Die Familie als zentrales Element der Sozialstruktur sollte im Fokus bleiben. Gleichzeitig mahnt Carson, die Erwartungen nicht zu hoch zu setzen. Christen können zudem auf einen reichen Schatz von kleinen, aber bedeutsamen Aktivitäten zurückblicken und daraus schöpfen. Vor allem aber bleibt die Priorität des Evangeliums!

Nach dem Blick nach aussen kehrt Carson die Richtung nach innen (Kapitel 11-14). Er diagnostiziert eine Fragmentierung der Evangelikalen selbst. Überhaupt ist die Begriffsbildung komplex, denn „evangelikal“ beschreibt zunehmend ein Label mit sich wandelnden Inhalten. Die Abgrenzung wird schwierig, weil manche Gruppen den Begriff als Selbstbezeichnung wählen und die inhaltlichen Grenzen ausweiten. Den sichersten „Sitz“ des Begriffs sieht Carson dann, wenn es in Zusammenhang mit dem Evangelium gebracht wird. Der Trend geht jedoch in die andere Richtung: Theologische Inhalte sind auf dem Rückzug, während kulturelle, institutionelle und persönliche Komponenten an Wichtigkeit gewinnen. Der Konsumismus und die Selbstbezogenheit haben tiefe Spuren innerhalb der weit gefassten Bewegung hinterlassen. „Relevanz“ kann als das Unwort schlechthin gelten, sozialwissenschaftliche Techniken werden als Schlüssel für nominelles Wachstum gesehen. Dem steht ein zunehmendes biblisches Analphabetentum gegenüber. Bibeltexte werden aus ihrem unmittelbaren Rahmen und aus dem Fluss der Heilsgeschichte herausgelöst. Nicht den Antiintellektualismus sieht Carson als Problem, sondern die fehlende biblische Orientierung der intellektuellen Vordenker.

Wie soll das Evangelium einer religiös-pluralistischen Gesellschaft verkündigt werden? Manche Kirchen verkündigen nicht mehr, dass der säkularisierte Mensch verloren ist. Dabei wäre gerade der intellektuelle, moralische und existenzielle Bankrott der spätmodernen Zeitgenossen der Anknüpfungspunkt schlechthin. Hier kommt wiederum Carsons besondere Stärke zum Zug. Er arbeitet – vorwiegend aus Apg 17,16-31 – heraus, wie wichtig es ist, die  Wendepunkte der Heilsgeschichte darzustellen und an ihnen festzuhalten. Paulus wählte bedacht Anknüpfungspunkte aus und griff auf gelehrtes Gedankengut der damaligen Zeit zurück. Er scheute sich jedoch nie auch die unangenehmen Themen der biblischen Botschaft wie die leibliche Auferstehung und das Gericht klar zu verkündigen. Es wäre ihm nie eingefallen, alternative Heilswege zuzulassen! Eine der Hauptbotschaften, die ich von diesem Buch mitnehme, lautet: Arbeite immer wieder die Botschaft des Evangeliums heraus und verkündige sie! Doch, so mahnt Carson, es dürfe nicht dabei bleiben. Wir müssen uns immer überlegen, wie wir diese Botschaft treu in den unterschiedlichen Lebensbereichen ausleben. Einen Rat nehme ich mir besonders zu Herzen: Ladet Leute zu euch nach Hause ein. Immer dann, wenn es um denKern der Sache geht, dann ist Stärke und Klarheit in den Aussagen ebenso angebracht wie eine Haltung der Demut.

Nachdem Carson in Kapitel 6 bereits exegetisch dem Heilsuniversalismus den Riegel geschoben hat – wie quer steht dies im heutigen religiös-pluralistischen Klima -, kommt er auf das Thema der Hölle zu sprechen (Kapitel 13). Kann der Feuersee „gebannt“ werden (so die Kapitelüberschrift)? Was ich von Carson lernen kann, ist seine Fairness in strittigen Fragen. Er arbeitet stets sauber die häufigsten Argumente heraus und zeigt die Bandbreite der Positionen auf (hier Pinnock Clark vs. John Stott). Dies hält ihn jedoch nicht davon ab, die eigene Position deutlich herauszustellen. Er praktiziert eben das, was er im ganzen Buch angemahnt hatte: Demütige Klarheit.

Fazit: Es handelt sich um die längste Abhandlung Carsons in der Auseinandersetzung mit der Gegenwartskultur. Die Länge entsteht nicht durch die Ausführlichkeit der Abhandlung, sondern durch die Breite der angesprochenen Themen. Über Strecken gewinnt das Buch den Status eines Nachschlagewerks. Eine grosse Hilfe ist das Verfolgen des Themas und des roten Fadens anhand der Kapitelüberschriften und der zweiten Überschriftenebene. Innerhalb dieser Abschnitte wird die Abhandlung oft durch einzelne Unterpunkte nochmals fein gegliedert. Wer gerne in den Fussnoten nachschaut, wird vom Material – insbesondere dem enormen Quellenangebot – fast erschlagen. Ich rate Theologen und Philosophen an, sich mit diesem Werk zu beschäftigen und ihre eigenen Überzeugungen auf dem Hintergrund der biblischen Heilsgeschichte zu überprüfen. Nur so können auf Dauer die Grenzen am richtigen Ort gezogen werden.