Gerhard Wehr. Paul Tillich zur Einführung. Junius-Verlag: Hamburg, 1998. Vergriffen.
Gerhard Wehr, Mystikforscher, hat sich bereits mit Werken zu C. G. Jung, Rudolf Steiner, Martin Buber und Jakob Böhme sowie Einführungen zu christlicher Mystik und Esoterik einen Namen gemacht. Ist es erstaunlich, dass er auch zu Paul Tillich ein einführendes Werk schrieb? Auf jeden Fall bewundere ich die Fähigkeit, auf engem Raum ein solch komplexes, weitverzweigtes Werk auf einige wichtige Punkte zu reduzieren und damit eine verständliche Einführung zu bieten. Nach dieser zweiten Einführung fühle ich mich schon etwas mehr mit der Art Tillichs vertraut.
Ich gehe dieses Mal nicht geordnet durch das Buch hindurch – seine Struktur spricht für sich -, sondern greife einige inhaltliche Lernpunkte heraus.
Tillichs Leben ist von zwei grossen Zäsuren geprägt (25): Dem Ersten Weltkrieg und der Emigration in die USA (1933). Wehr sieht Tillich auf den geistigen Schultern von Duns Scotus, Luther, Jakob Böhme und Friedrich Christoph Oetinger (schwäbische Theosophen des 18. Jh.) stehen (19). Nicht zu vergessen ist die Entwicklung seines Denkens durch den deutschen Idealisten Friedrich Schelling (1775-1854). „(N)iemals in der Entwicklung meines eigenen Denkens habe ich die Abhängigkeit von Schelling vergessen.“ (26) Tillich war kein geradliniger, konzeptioneller Denker, sondern entwickelte laufend neue Konzepte (23). Als Grenzgänger und Brückenbauer setzt er sich der Unklarheit hinsichtlich eigener Position und der „geistigen Wankelmütigkeit“ aus (28). Wehr kommentiert – ganz im Geiste des zeitgenössischen religiösen Pluralismus: „Erst dadurch, dass vermeintlich endgültige oder absolut gesetzte Überzeugungen, Dogmen, Parteimeinungen oder Weltanschauungen konsequent aufgegeben oder doch wenigstens selbstkritisch überprüft werden, erweitert sich der Erkenntnis- und Erlebnishorizont.“ (31) Meine Frage: Auf welcher Basis werden diese neuen Erkenntnisse überprüft?
Damit sind wir beim grossen Anliegen von Tillich: Er war bemüht um eine „gesprächsfähige Theologie“, die sich „vorwiegend um die im ausserkirchlichen Raum lebenden Partner bemüht“ (10). Tillich war dabei der Meinung, dass kein Theologe ernst genommen werden darf, wenn er „die Philosophie nicht ernst nimmt“ (zit. S. 61). Vor dem Erscheinen seines Hauptwerkes, der Systematischen Theologie in den 50er-Jahren, „war man bisweilen veranlasst zu fragen, ob Tillich überhaupt noch Theologe sei oder ob er lediglich das theologische Vokabular verwende, um seine Vorstellungen einzukleiden“ (33). Ganz so weit trieb er es nicht. Weder Offenbarung, Trinität, Rechtfertigung, das Kreuz noch die Auferstehung verschwinden von der Bildfläche. Er nahm signifikante – meines Erachtens entstellende – Akzentverschiebungen vor.
Auch hier ist zu differenzieren: Das Löbliche ist der Versuch, durch die Methode der Korrelation sich stets darum zu bemühen, „die theologische Aussage und die konkrete Lebenssituation“ miteinander zu verknüpfen (Buchrückseite). Theologie, die sich nicht mit der säkularen Kritik auseinandersetzt und „die aktuellen Herausforderungen respektiert“, muss nach Tillich mit dem Prädikat „a-kairos“, unzeitgemäss, versehen werden (78). Er ging allerdings so weit, in der ST auf Bibelzitate, also den „üblichen Schriftbeweis“ zu verzichten (77). Ulrich Neuenschwander beschreibt den Versuch Tillichs in der ST als „Versuch… unter Wahrung der Konformität der Strukturen eine systematische Theologie gemäss den Ausdrucksmitteln unseres heutigen Wirklichkeitsverständnisses auszuarbeiten.“ (zit. S. 92).
Nach Auffassung des Autoren gelingt es Tillich, über das Zeittypische der Bibel hinauszugelangen und dadurch die „Dimension des Spirituellen bzw. des Esoterischen“ Raum zu geben. Dadurch bietet sich ihm „die unverzichtbare Chance“, jenseits der menschlichen Verfügbarkeit von Raum und Zeit Dinge auszudrücken (108). Ich habe mich gefragt: Warum das eine auf Kosten des anderen? Gerade das Nebeneinander von natürlicher und übernatürlicher Welt eröffnet sich dem Glaubenden! Dadurch verweigern wir uns nicht der Wirklichkeit, wie sie Gott geschaffen hat, und wie sie sich uns – zwar oft verzerrt und unvollständig – unseren Sinnen zeigt. Die Dimension der Tiefe und die starke Betonung des Symbolismus schuf für Tillich die Brücke, in allem Geschaffenen religiöse Anknüpfungspunkte zu erkennen. Auch hierin kann ich ihm ein Stück weit folgen. Wehr betont als profunder Kenner der Tiefenpsychologie die grosse Aufmerksamkeit des Theologen auf dieses damals neue Gebiet:
Tillichs Interesse an der Tiefenpsychologie und Psychotherapie kam nicht von ungefähr. Zum einen begegnete er in ihr der Metapher, die auch sein Denken bestimmt: der Tiefe – wenngleich der Theologie und der Psychologe damit unterschiedliche Dimensionen der Wirklichkeit meinen. (150)
Von besonderem Wert ist die kompakte Zusammenfassung seiner dreibändigen Systematischen Theologie (S. 49-92). Das Werk besteht aus fünf Teilen: Den Prolegomena „Vernunft und Offenbarung“, drei trinitarischen Kernstücken Gott – Sohn – Heiliger Geist und einem letzten Teil zum Verhältnis von Geschichte und Reich Gottes. Die Methode der Korrelation wird hier umgesetzt (was ich beim Lesen der ST aufmerksam verfolgen werde).
Letztlich sieht Wehr den Ansatz Tillichs als ein „Beginnen von unten“:
Wir müssen von unten beginnen und nicht von oben. Wir müssen mit den Erfahrungen anfangen, die der Mensch in seiner Situation hier und jetzt macht, und mit den Fragen, die in ihr ihren Grund haben und aus ihr entstehen. Dann erst können wir zu den Symbolen weitergehen, die Anspruch darauf erheben, die Antwort zu enthalten. (GW 5,236, zit. S. 151)
Ich meine beipflichtend: Wir haben mit den Erfahrungen des Menschen mitzugehen. Wir dürfen den Aufwand nicht scheuen, die wichtigen Fragen der Zeit gründlich und ehrlich herauszuarbeiten. Doch dann müssen wir uns der Schrift zuwenden. Sie korrespondiert mit diesen Fragen und bietet ehrliche Antworten auf die tiefsten Fragen unseres Seins bereit. Für eine wirkliche Korrespondenz mit Gottes spezieller Offenbarung durch die Bibel braucht es allerdings das innere Zeugnis des Heiligen Geistes. Durch sie werden gerade die schwachen Worte der Torheit vom Kreuz (1. Korinther 1) die durchschlagende Kraft haben, den Menschen von Grund auf zu verändern und ihn der Entfremdung von Gott, sich selbst und anderen Menschen zu lösen.