Quelle: Paul Tillich. Systematische Theologie. Band I. Evangelisches Verlagswerk: Stuttgart, 1955. (16-19)
Jede Disziplin und jede Wissenschaft beruht auf Vorannahmen; das stellt Tillich am Anfang seiner Systematischen Theologie fest. Ich stimme dem zu. Auch in der wissenschaftlichen Theologie gibt es einen „Punkt, an dem individuelle Erfahrung, traditionelle Wertung und persönliches Bekenntnis den Ausschlag geben“ (16).
Ich bejahe: Der Eingangspunkt jeglicher Erkenntnis ist der menschliche Geist. Tillich fährt dann fort: Auch andere Denksysteme wie Idealismus oder Naturalismus hängen ab von einem „Identitätspunkt zwischen dem erfahrenden Subjekt und der letzten Grösse, die in der religiösen Erfahrung oder im religiösen Welterlebnis erscheint.“ Es geht um also eine unmittelbare Erfahrung „von einem letzten Wert oder Sein, dessen man intuitiv gewahr werden kann.“ (ebd.)
Diesem Zirkel kann kein Geisteswissenschafter entgehen. Der Theologe füge dem „‘mystischen Apriori‘ das Kriterium der christlichen Botschaft hinzu“ und „behauptet die Allgemeingültigkeit der christlichen Botschaft“ (17).
Hier halte ich dagegen: Jeder Mensch weiss zwar von Natur aus von gewissen Eigenschaften Gottes und verfügt über ein ethisches Unterscheidungsvermögen (siehe Röm 1,18-32). Eine Theologie „von unten“, also aus der mystischen Erfahrung, ist jedoch nicht möglich bzw. wird zwangsläufig zu Verirrung führen.
Tillich kritisiert weiter die „wissenschaftliche Methode“ der Theologie – zu Recht. Eine wissenschaftliche Theologie, welche die christliche Botschaft an sich mit Hilfe ihrer Methode interpretieren will, halte sich „ausserhalb des theologischen Zirkels“ (ebd.) Sie nimmt einen vermeintlich übergeordneten Beurteilungsstandpunkt ein, kann jedoch ihren eigenen Vorannahmen nicht entkommen.
Tillich fordert den Theologen auf, „ein Interpret seiner Kirche und ihres Anspruchs auf Einmalgikeit und Allgemeingültigkeit“ zu sein. „Dann lässt er sich auf den theologischen Zirkel ein und sollte zugeben, dass er es wirklich getan hat.“ (ebd.)
Wie sieht die Situation eines Theologen in seinem Zirkel aus? Hier wird Tillich meines Erachtens sehr verschwommen: „Innerhalb des theologischen Zirkels handelt es sich um eine existenzielle Entscheidung, um die Glaubenssituation.“ Ja, das ist die Terminologie des Existenzialismus. Doch was heisst das genau? „Jeder Theologie ist an seine Sache gebunden und steht ihr zugleich fern; er steht immer im Glauben und im Zweifel, er befindet sich innerhalb und ausserhalb des theologischen Zirkels. Zuweilen schlägt die eine Seite vor zuweilen die andere, und er ist nie sicher, welche Seite wirklich die Oberhand hat.“ (18) Ich verstehe nicht. Wir sollen uns prüfen, ob wir im Glauben stehen (2Kor 13,5).
Für Tillich ist entscheidend, den Inhalt des theologischen Zirkels als sein „letztes Anliegen“ zu anerkennen. Diesen Begriff definiert er wenig später als „die abstrakte Übertragung des grossen Gebotes“, nämlich Gott und den Nächsten zu lieben (19). Das Wort ‚Anliegen‘ deute „auf den existenziellen Charakter der Erfahrung“, welches „Gegenstand totaler Hingabe“ sei (ebd.). Tillich will die Anerkennung des letzten Anliegens nicht „von der Intensität und Gewissheit des Glaubens, oder von der Kraft der Wiedergeburt oder dem Grad der Heiligung“ (ebd.).
Auch hier muss ich differenzieren: Ja, unsere Hingabe ist nicht von uns abhängig, sehr wohl aber von der Kraft der Wiedergeburt. Wir neigen tatsächlich manchmal dazu, die christliche Botschaft „anzugreifen oder zu verwerfen“. Doch Christus bleibt derjenige, der das gute Werk in uns vollendet und auch dem Theologen das Beharren im Glauben schenkt.