Überarbeitete Notizen aus der Vorlesung mit Dr. Ashley Null „Die Rechtfertigungslehre der Reformatoren“
In unserer westlichen Welt wird Persönlichkeit über etwas zu Erreichendes definiert. Der amerikanische Traum besteht darin, dass jemand mit Charakter und harter Arbeit etwas aus sich machen kann. Was ist der deutsche Traum? Als Aussenstehender meint Dr. Null: Sicherheit ist für die Deutschen das wichtigste. Diese Sicherheit erwirbt man sich durch Arbeit. Dafür hat der Einzelne Verantwortung zu übernehmen. Durch das Erreichte gewinnt er Respekt vor sich selbst und bewahrt seine Eltern vor Beschämung. Es geht also darum, sich vor anderen annehmbar zu machen. Identität und Bedeutung hängen vom persönlichen Einsatz ab. Das ist eine beträchtliche Bürde.
Übertragen wir diese Definition von Identität auf die Persönlichkeit eines Pastoren: Es geht um Besucherzahlen und Spendenstand. Wie kann sich ein solches Streben auswirken? Zwei Reaktionen liegen auf der Hand: Stolz über das Erreichte oder Verzweiflung über nicht Erreichtes.
Besonders akzentuiert ist dieses Leistungsdenken unter Sportlern. Andrew Agassi schreibt in seiner Biografie „Open“: Immer zu gewinnen heisst, sich auf eine höhere Ebene zu begeben, damit der Damm einem nicht überflutet. Mit diesem Vergleich spielte er auf den Zorn seines Vaters an, der im Falle einer Niederlage drohte. Das wusste er schon als knapp Achtjähriger. Nachdem Agassi in einem Juniorenturnier durch ein fälschlich reklamiertes Out verlor, brauchte er diesen äusseren Druck des Vaters nicht mehr. Er setzte fortan alles daran, nicht mehr zu verlieren.
Gehen wir zurück in das Leben eines “Normalos”: Du kriegst nach sieben Jahren die Festanstellung nicht. Wie gehst du mit den Gefühlen des Versagens um? Eine innere Stimme sagt dir: Investiere die dadurch entstehende Energie in harte Arbeit, um nicht wieder zu verlieren. Scham wird zur Motivationsspritze.
Das Hochgefühl des Sieges ist nicht zu vergleichen mit der Bitterkeit und Enttäuschung einer Niederlage. Wie gehen Christen damit um? Manche fragen sich: „Was habe ich falsch gemacht? Warum bestraft Gott mich?“ Dadurch wird etwas von unserer Motivation deutlich: Wir sind einen Handel mit Gott eingegangen. Die Abmachung lautete wie folgt: Wenn ich ein guter Mensch bin, wird er mich dafür segnen. Wenn nicht, dann wird er mich strafen. Wenn wir die (vermeintliche) Strafe dann eingefangen haben, ringen wir mit der Anklage Gott gegenüber: „Das ist nicht fair.“
Was lernen wir daraus? Die uns umgebende Kultur lehrt uns ein anderes Evangelium, nämlich das der Erlösung durch eigene Leistung. Daraus wird deutlich: In der Lehre der Rechtfertigung geht es nicht um eine abgehobene theologische Debatte. Es geht um das Zentrum des christlichen Glaubens.