Herman Bavinck. Christliche Weltanschauung. VKW: Bonn, 2007. 91 Seiten. 10 Euro.
Wir kommen zu einer zweiten aktuellen Frage:
Universales Sittengesetz oder ethischer Relativismus?
Im dritten Teil des Buches spricht Bavinck ein universal gültiges Sittengesetz (die folgenden Zitate sind S. 64-71 entnommen): „(S)obald unser Bewusstsein erwacht, entdecken wir, dass Gesetze und Normen über uns stehen, die uns gebieten, uns über die Natur zu erheben und uns ihrem Zwang zu entziehen. In diesen Normen zeigt sich uns eine andere und höhere Welt als die, welche in der Natur zur Erscheinung kommt. Es ist eine Welt nicht des Müssens, sondern des Sollens, eine Welt der ethischen Freiheit und Wahl. Inmitten und über der empirischen Wirklichkeit behauptet sich in diesen Normen eine sittliche Weltordnung, eine Welt der Ideen, eine Welt des Wahren, Guten und Schönen. … Ob der Mensch ihren Gesetzen gehorchen kann oder will, das ist nicht die Frage, sie sagt kategorisch, dass er es tun soll.“
Diesem Sittengesetz ist jeder Mensch unterworfen. Er merkt es dann besonders, wenn er es von anderen einfordert: „So sehr, fast instinktmässig, erkennen wir die Billigkeit dieser Forderung, dass wir andere stets nach ihr beurteilen. Sind wir doch keine gleichgültigen Zuschauer alles dessen, was um uns vorgeht, sondern wir prüfen alles nach dem Gesetz des Wahren, Guten und Schönen, und sprechen unsere Billigung oder Missbilligung darüber aus. Geht es uns selbst an, so haben wir im eigenen Interesse gewöhnlich mancherlei Entschuldigungen zur Hand. Bei anderen aber lassen wir diese fast nie gelten.“ “Wir tragen ein Gesetz in uns, das uns vorhält, dass wir anders sein sollen und anders handeln sollen, als wir wirklich sind und handeln. Wir bilden Werturteile, wir glauben an ideale Güter, wir halten an unvergänglichen ewigen Normen fest.”
Wird jedoch eine andere Weltanschauung, die der allmählichen Entwicklung allen Lebens, auf die Ethik angewandt, ergibt sich eine veränderte Deutung: „Es ist die Menschheit, die allmählich durch die Evolution dem sittlichen Leben, der Autorität und dem Pflichtbegriff, den altruistischen Instinkten und ethischen Motiven Existenz und allgemeine Gültigkeit verschafft.“ Die Folge davon ist ethischer Relativismus: „Wenn alles im Prozess aufgelöst wurde, konnten die idealen Normen von wahr und unwahr, von gut und böse, von schön und unschön ihren absoluten Charakter nicht behalten. … Das Normative wird in dem Historischen gesucht, das Ideale mit der Wirklichkeit identifiziert, das Relative in den Rang des Absoluten erhoben.“
Das führte zu fatalen Entwicklungen des Nationalismus. Bavinck sah dies 1904 (!) mit prophetischem Blick voraus: „Weil der Mensch aber doch immer einer gewissen Stetigkeit bedarf, liegt hier die ernste und durchaus nicht eingebildete Gefahr vor, dass diese einseitig historische Betrachtung ihn zu einem falschen Nationalismus, zu einer Schwärmerei für Rasse und Instinkt führt.“
Der Relativismus scheint auf den ersten Blick unparteiisch zu sein, weil er sich nur für das Konkrete interessiert. Doch der Schein trügt: „Der Mensch bildet sich seine eigene Religion und Moral, seine eigene Welt- und Lebensanschauung. Die Hauptsache ist, dass er an nichts als an sich selbst gebunden, sich selbst auslebe, und anderen ein Moment ästhetischen Genusses verschaffe. Natürlich fallen damit auch alle sittlichen Institute, alle Einrichtungen von Familie, Gesellschaft und Staat auseinander. … Es bestehen ja keine objektiven Ideen, keine sittlichen Bande, keine feststehenden Ordnungen mehr, die diese Elemente zusammenhalten und organisieren.“
Trotzdem kommen wir aber nicht umhin, uns allgemeine Begriffe zu schaffen und uns unter vertragliche Abmachungen und Regeln zu stellen: „Durch einen fiktiven Vertrag oder durch den Zwang der Umstände schliessen sich die Menschen zusammen. … So schlägt nicht aus ethischer Notwendigkeit, sondern aus praktischen Motiven, aus ökonomischen Faktoren, der Individualismus in Sozialismus, die Autonomie in Heteronomie, der Nominalismus in Monismus, der Atomismus in Pantheismus, die Anarchie in Despotismus, die Volkssouveränität in Staatsallmacht, die Freiheit in Herrschaft der Mehrzahl um.“
Lernfeld: Eine Haltung der entschiedenen Gelassenheit
Weil Bavinck um die Realität eines Gottes, der sich offenbart, weiss, steht er dieser Entwicklung mit Gelassenheit gegenüber. Aus dieser Ruhe heraus entwickelt er Argumente, um gegenüber den herrschenden Weltbildern Stellung zu nehmen.
„Die christliche Religion sieht diesem Suchen und Tasten einer sie verschmähenden Menschheit nicht mit Gleichgültigkeit, wohl aber mit erhabener Ruhe und froher Sicherheit zu. … Wenn wir die christliche Religion recht verstehen und in ihrem Wesen handhaben wollen, dann können wir nicht anders, als mit Entschiedenheit gegenüber den Meinungen des Tages und den Weltanschauungen eigener Erfindung und Mache Stellung zu nehmen.“ (21)
Bavinck ist überzeugt, gegen die Entfremdung von Denken und Leben ein probates Mittel gefunden zu haben. Der Schöpfer, der sowohl Geschöpf wie auch den Kosmos geschaffen hat, ermöglicht es, Denken und Leben wieder zu einer Einheit zusammen zu führen:
„Dieselbe göttliche Weisheit, welche die Welt dachte und kannte, bevor sie dieselbe schuf, welche durch dieses Denken den Dingen Wirklichkeit und unserem Verstand Wahrheit gab, die stellte auch die Normen für unser Wissen, Wollen und Handeln fest. Die Ideen, die die Verbindung herstellen zwischen Denken und Sein, zwischen Sein und Werden, bringen auch Harmonie zustande zwischen Werden und Handeln, zwischen Physis und Ethos, zwischen Wissen und Tun, zwischen Kopf und Herz.“ (74)
Bavinck sieht diese Harmonisierung nicht nur auf einer abstrakten Ebene, sondern er betrachtet sie als Realität für den einzelnen Christen:
„Nicht nur stellt die christliche Weltanschauung objektiv die Harmonie zwischen natürlicher und sittlicher Entwicklung wieder her, sondern sie bringt auch subjektiv Einheit in unser Denken und Handeln, in unseren Kopf und unser Herz. Wenn es dieselbe göttliche Weisheit ist, denen die Dinge ihre Realität, unser Bewusstsein, seinen Inhalt und unser Handeln, seine Regel verdankt, dann muss zwischen diesen drei auch untereinander Übereinstimmung bestehen.“ (75)