Buchbesprechung: Eine monumentale Augustinus-Biografie (II)

Peter Brown. Johannes Bernard (Herausgeber). Augustinus von Hippo. Sociëtäts-Verlag: Frankfurt, 1973. 499 Seiten. Antiquarisch ab 11 Euro.

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Anklänge an die heutige Zeit

Zahlreiche Aspekte, die ich bisher schon erwähnte, hob ich deshalb hervor, weil sie Licht auf aktuelle Herausforderungen werfen. Augustinus wuchs ähnlich wie wir in einer „harten Wettbewerbswelt“ heran (17). Wie heute manche Christen war er zutiefst von der Überweltlichkeit angetan, damals ausgearbeitet in den Gedanken des christlichen Platonismus (77). Ähnlich wie Plotinus werden sie im „‘Hier‘ der seinen Sinnen vertrauten Welt … von der zeitlosen Beschaffenheit des ‚Dort‘ einer anderen Welt verfolgt“ (80). Während seines Rückzugs nach Cassiciacum im Jahr 386 schrieb er Dialoge, in denen er seine „Ideale als Bestandteil eines Planes moralischer Erziehung“ verkündigte (103) – derselbe Impuls wie für manch anderen Denker innerhalb der Pädagogikgeschichte. Auch Augustinus spürte bei sich die „Ruhmliebe, das Bedürfnis, sich von anderen bewundert und geliebt zu fühlen“ (178).

Darstellung der Theologie

Als Theologe interessierte mich insbesondere: Wie schaffte es Brown als Historiker, die Theologie des Gottesmannes ausgewogen darzustellen? Dem Autoren gelingt es meines Erachtens, die Auseinandersetzungen und Kämpfe in die Nähe von eigenen Erfahrungen rücken zu lassen.

Nehmen wir als erstes Beispiel den Abriss über die „Bekenntnisse“. Augustinus schrieb die Autobiografie, seine grosse Innenschau, „in der Einstellung eines Arztes, der sich erst seit kurzem, und daher um so eifriger, einer neuen Behandlungsmethode widmet“ (155). Augustinus sah darin seine Vergangenheit als eine Einübung für die gegenwärtige Aufgabe (140). In der Lebensmitte stehend, spürt man die „Spannung zwischen dem ‚Damals‘ des jungen Mannes und dem ‚Jetzt‘ des Bischofs“ (142).  Augustinus ist zu Beginn gespannter Hörer, „unruhig, ein unbussfertiger, unbequemer Fragesteller, vor allem aber herrlich egozentrisch“ (145). Die Gedanken sind „durchtränkt von einer Empfindung der Allgegenwart Gottes“ (146) und durchdrungen von starkem „Gespür für Gottes Handeln im Leben des Augustinus“ (152). Die Beobachtungen Browns bleiben innerhalb der sachlich-darstellenden Grenzen des Historikers. Gleichzeitig versteht er es, wichtige Zusammenhänge darzustellen. Er zeichnet auf geniale Weise die Wendung hin zur Beschäftigung mit der Vorsehung Gottes und der Verdorbenheit des Menschen nach, z. B. hier: „Vor allem war da das brennende Problem der offenkundigen Dauerhaftigkeit des Bösen im menschlichen Handeln.  … Der Mensch fand sich in anscheinend unumkehrbare Verhaltensweisen verstrickt und zwingender Nötigung unterworfen, sich auf eine Weise zu verhalten, die seinen guten Absichten zuwiderläuft, und in trauriger Unfähigkeit, Gewohnheiten abzulegen, die sich verfestigt hatten.“ (128)

Ein zweites Beispiel bietet die Beschreibung des monumentalen Buches „Der Gottesstaat“. Angesichts der Plünderung Roms und des Vorwurfs, dass dies Ausdruck des Zorns der Götter auf die Christianisierung zurückzuführen sei, „stand sein Ruf auf dem Spiel, und zwar vor einem sehr differenzierten und fordernden Publikum“ (264). Das Buch sei „ein Denkmal der literarischen Kultur des späten Kaiserreiches“ (265) und wurde in der römischen Literatur als „ein Werk des ‚christlichen Nationalismus‘“ eingestuft (267). Seine Beschreibung der Platoniker zeige, dass „ein Teil der heidnischen Vergangenheit in Augustinus noch lebendig war“ (268). Was sich auch als ein Werk reiner Bibelauslegung hätte entwickeln können, formte sich „zu einer wohlüberlegten Auseinandersetzung mit dem Heidentum“ (272). Augustinus verstand es zudem in den folgenden Jahren im Werk selbst wie auch in seinen Predigten den Christen all das zu geben, was „eine demoralisierte Gruppe hörten musste. Er gab ihnen den Sinn für Identität wieder…“ (274). In Ep. 138,1,5 schrieb er dazu passend: „Gott ist der unwandelbare Schöpfer wie auch Erhalter aller sich wandelnden Dinge.“ (278) „Worum es im ‚Gottesstaat‘ und in Augustinus‘ Predigten ging, war die Fähigkeit der Menschen sich nach etwas anderem zu ‚sehnen‘…“ (282)

Das dritte anschauliche Beispiel bietet die Behandlung der Auseinandersetzung mit den Pelagianern. Die Botschaft des Pelagius lautete: „Da die Vollkommenheit dem Menschen möglich ist, so ist sie verpflichtend.“ (zit. S. 299) Dieser „tödliche Perfektionismus der Pelagianer war ihm zuwider.“ (285) „Wie viele Reformer legten auch die Pelagianer die erschreckende Last völliger Freiheit dem einzelnen auf. Er war für jede seiner Handlungen verantwortlich. Daher konnte jede Sünde nur ein vorbedachter Akt der Gottesverachtung sein.“ (306) Mit Pelagius stand Augustinus erstmals ein gleichwertiger Gegner gegenüber. Augustinus’ Sieg war ein Sieg „des durchschnittlichen, gut katholischen Laien des späten Kaiserreiches über ein strenges, reformierendes Ideal“ (305). Während der ganzen Kontroverse war Augustinus in der Lage „seine Alternative zum Ideal des christlichen Lebens“ darzulegen – und dies in übervollen Kirchen (320). Brown gesteht Augustinus ein „tiefes Gespür für das Wesen des menschlich Bösen“ zu. „Nach Pelagius war menschliche Sünde wesentlich oberflächlich – eine Sache der Wahl.“ (321) Augustinus stellte dem eine „Mentalität der Abhängigkeit, eine Betonung der absoluten Notwendigkeit der Demut und der Idee eines ‚allgemeinen Zusammenbruchs‘ des Menschengeschlechts“ gegenüber (322). Seine Kritik betraf nicht so sehr den „Optimismus bezüglich der Menschennatur als vielmehr die Tatsache, dass ein solcher Optimismus auf einer durschaubar unangemessenen Ansicht über die verwickelte Vielfalt menschlicher Motivierung zu beruhen schien“ (325). Pelagius setzte dazu voraus, „dass die Gewährung einer guten Umgebung die Menschen direkt zum Besseren beeinflussen kann.“ (326) Damit schien eine Glückseligkeit, die es in der Vergangenheit gab, „durch eine Willensanstrengung in der Gegenwart“ wieder möglich (334).

Empfehlung

Augustinus hat unglaublich viel geschrieben. Das widerspiegelt sich auch in dieser Besprechung. Mit „Q“ notierte ich mir Hinweise z. B. über junge Ehemänner (33), Freundschaft (53), das Konkubinat (74), ein Gespräch mit seiner Mutter kurz vor deren Tod (111), über die Gartenarbeit Adams und Evas (123), über den ersehnten Frieden (126), über die Notwendigkeit gesellschaftlichen Drucks (208). Der befähigte Bibelausleger verstand es den Inhalt eines Psalms zu Leben zu erwecken (223) und sich begeistert über das Heben biblischer Schätze zu äussern (230). Angesichts der grossen Umwälzungen „zerpflückte er sofort die konservative Voraussetzung, dass der Wandel stets anstössiger sei als das Beharren“ (276). Er verstand es über den sündhaften Zustand der Menschen präzise Aussagen zu treffen (318+354) und den Hunger und die Sehnsucht nach dem ewigen Leben zu wecken (329). Angesichts der Tragödien des menschlichen Lebens verstand er es auch, die Vorsehung Gottes eindrücklich darzustellen (347+350). Er selbst fürchtete sich davor, dass aus seinen zahlreichen Werken „vieles gesammelt werden kann, das, wenn schon nicht falsch, so doch unnötig scheinen oder sich gar als unnötig erweisen sollte.“ (376)

Die Fülle der Zitate, ergänzt mit einem ergiebigen Literaturverzeichnis, Zeittafeln und einer Übersicht über seine Schriften machen das Buch zu einem unverzichtbaren Nachschlagewerk. Die Einbettung der Biografie in das historische Umfeld gelingt Brown wie kaum einem anderen. Wer neben zu Krimi, Ratgeber oder einem zeitgenössischen Roman eine tiefschürfende Alternative sucht, dem sei dieses Buch empfohlen.